Weniger ist noch mehr als genug
Das Topmodell des Porsche 911 ist in zwei Leistungsstufen zu haben: als Turbo und als Turbo S. Schon die schwächere Version ist ein Ausnahmetalent – wobei «schwach» hier das falsche Wort ist.
Wer sich einen Porsche 911 kauft, greift offensichtlich gerne zum Superlativ. 2020 war die teuerste und stärkste Version des Sportwagens auch die meistverkaufte: der mindestens 271 600 Franken teure 911 Turbo S mit 650 PS.
Für 44 400 Franken weniger kriegt man den 911 Turbo mit 580 PS. Abgesehen von den für Stammtischgespräche wichtigen Fakten steht der Turbo seinem stärkeren Bruder kaum nach. Spätestens beim ersten Druck aufs Gaspedal wagt man als Fahrer kaum mehr zu denken, dass es auch eine stärkere Version gäbe. Den Sprint auf 100 km/h erledigt der 911 Turbo dank Allradantrieb in nur 2,8 Sekunden – nur eine Zehntelsekunde langsamer als das Topmodell. Noch beeindruckender ist der Durchzug: Der 3,8-Liter-Sechszylindermotor mit zwei Turboladern kommt auf 750 Nm Drehmoment schon knapp über 2000 Umdrehungen. Damit schiebt er jederzeit mehr als nur kräftig an und ermöglicht sicheres Überholen.
Dass der 911 Turbo ein echter Sportwagen ist, sieht man ihm an und merkt man freilich auch in jeder Kurve. Dank üppig dimensionierter Bremsanlage mit Stahlscheiben (der teurere Turbo S verfügt serienmässig über eine Keramikbremse) bremst er genauso brachial, wie er beschleunigt. Breite Reifen (255 vorne, 315 hinten) und eine Allradlenkung sorgen zusammen mit dem ausgeklügelten Allradsystem für scharfes Einlenken und schier unerschütterliche Kurvenhaftung. Der Wunsch nach mehr kommt in diesem Auto definitiv nicht auf.
Ungeahnte Talente
Der 911 Turbo bringt also alle Talente mit, um auf einer Rennstrecke zu den Schnellsten zu gehören. Das erwartet man schliesslich auch von einem Porsche mit breit ausgestellten Radhäusern und grossem, ausfahrbarem Heckspoiler.
Erstaunlicher ist, wie einfach sich der 911 Turbo handhaben lässt. Bei sportlicher Fahrweise wirkt das Coupé zwar überragend schnell und sehr fahraktiv, aber auch jederzeit sicher und kontrollierbar. Die Zeiten, in denen man den 911 Turbo, in den ersten Generationen noch mit Hinterradantrieb, als Witwenmacher bezeichnete, sind längst vorbei.
Vorbei sind in diesem Auto auch die Zeiten, als ein Hochleistungssportwagen grosse Kompromisse im Alltag einforderte. Denn die grösste Stärke dieses Sportcoupés ist schlussendlich seine Alltagstauglichkeit. Wenn nötig und gewünscht, fährt er sich trotz enormem Leistungspotenzial so unkompliziert wie ein Kleinwagen. Die mitlenkende Hinterachse erleichtert das Manövrieren in engen Parkhäusern, die 8-Gang-Doppelkupplung-Automatik wechselt die Gänge weich und verschliffen – und der Motor schüttelt die benötigte Leistung locker aus dem Ärmel. Auf langen Strecken wirkt die Federung für ein Auto dieser Klasse sehr komfortabel – und auch das Geräuschniveau ist absolut erträglich; nur die etwas erhöhten Abrollgeräusche fallen auf.
So taugt der 911 Turbo nicht nur als Spielzeug für ein paar schöne Tage im Jahr; er ist ein Auto für jeden Tag, das selbst auf schneebedeckten Strassen nichts von seiner Souveränität einbüsst. Der Verbrauch wird mit 12 l/100 km laut WLTP-Messung angegeben. Bei ruhiger Fahrt auf der Autobahn sinkt er aber deutlich unter die 10 l/100 km-Marke; im Testschnitt waren es schlussendlich 11,2 l/100 km.
Mit einem Grundpreis von 227 200 Franken ist der Porsche 911 Turbo ein teures Vergnügen, in dessen Genuss nur wenige kommen können. Da er dem deutlich teureren 911 Turbo S aber kaum nachsteht, kann er schlussendlich aber doch als gutes Angebot bezeichnet werden. Vor allem auch, weil er unter den Supersportwagen in seiner Leistungsklasse nicht nur einer der praktischsten und alltagstauglichsten ist, sondern auch einer der vernünftigsten. Wie wichtig dieser Superlativ für Autokäufer in der obersten Preisklasse ist, ist allerdings fraglich.
Philipp Aeberli