Das Gewicht der Seele
Die Konfrontation mit demTod ist im Regelfall eine traurige Angelegenheit.In «Styx–ein Rendez-vous mit dem Tod» kommen viele weitere Empfindungen dazu, eingepackt in einem originellen Setting.
«Styx»: Was tönt und aussieht wie eine Autovermietungsfirma mit Tippfehler, ist ein Unternehmen im krisensichersten Geschäft, dem Tod. Die Kundschaft, die Theatergäste, werden mit dem luxuriösen VBL-Car aus dem Luzerner Stadtzentrum ins Friedental chauffiert. Für die Rückreise, falls es – gemäss Ankündigung – zu einer solchen kommen sollte, sind die Gäste selbst verantwortlich. Ein banaler Dieselbus der Linie 19 muss dafür reichen. Das ist die logistische Ausgangslage für «das Rendez-vous mit dem Tod», das vom Luzerner Theater aktuell organisiert wird. Vorab: eine ultraschräge Produktion, die vom lauten Lachen bis zum Kloss im Hals alles bietet. Wer allzu «woke» durchs Leben geht, sollte sich der Gefahren der Inszenierung bewusst sein. Folgende gesellschaftliche Randgruppen werden karikiert, mit Ironie überzogen: Bus-Hostessen, Reiseleiterinnen, Totengräber, Fährmänner, Wiener, turnende Rentner und dazu noch die soziale Gruppe, die sich am allerwenigsten wehren kann, die Toten.
Sulzige Bus-Hostess
Zurück in den VBL-Car. Auf dem Weg ins Krematorium, Ecke Libellen-/Friedentalstrasse, hat’s «gchlöpft»: Ein Leichenwagen steht rauchend am Strassenrand. Der Sarg auf der Ladefläche wird kurzerhand ausgeladen und in den besagten Bus auf dem Weg ins Friedental geladen. Herrlich die Gesichter der unbeteiligten Passant:innen und Autofahrer:innen. Ungläubigkeit bis helles Entsetzen in den Gesichtern! Es geht weiter zum Friedhof. Bus-Hostess Amanda (herrlich sulzig: Amélie Hug) preist die Dienstleistungen von «Styx» (Firmenclaim: «Sorglos sterben») an. Wer nach dem Exitus seinen CO2-Fussabdruck ausradiert haben möchte, wird ebenso bedient wie Ablebende, die unbedingt 200 Personen zur Trauerfeier möchten. Und so weiter. Die Texte sind allesamt hochklassig amüsant, auch die Information, dass eine Seele 21 Gramm schwer ist und jährlich 56 Menschen bei gescheiterten Tell-Apfelschuss-Versuchen ins Gras beissen.
Im Friedental angekommen, verteilen sich die Gäste auf der Parkanlage des alten Krematoriums auf neun Aktionsflächen, wo der Tod sich unterhaltend, beängstigend, liebevoll, brutal oder lächerlich präsentiert. Erste Station ist Charon, der eigentlich düstere Fährmann der griechischen Mythologie, der Tote für einen Obolus über den Totenfluss «Styx» bringt. Im aktuellen Bühnenfall ist der genannte Kerl eher vom Typus moderner Hippie, der auf einer Insel im Bassin der Parkanlage singend die Gäste begrüsst. Weiter geht’s. Ein Probeliegen im Sarg wird angeboten. Oder der Blick in ein offenes Grab, um die letzte Adresse des Lebens schon mal kennen zu lernen. Der Dialog mit einem an Krebs erkrankten Kind ist schlimm. Das Zusehen, wenn reifere Zeitgenossen mit Aerobic den Tod noch ein bisschen hinausschieben wollen, amüsant. Eine Sirene (Nora Bertogg) mit Händenmaske interpretiert Villa-Lobos-Klänge im und rund um einen mit Pink behängten Gartenpavillon, erholsame Momente. Wie auch der Aufenthalt am «Doña muerte»-Imbissstand, wo es unter anderem Glasaugen und Gebisse für den unmittelbaren Verzehr gibt. Tenor Robert Maszl interpretiert Wiener Schmalzlieder, verwirrt als vermeintlicher Gärtner des Friedentals die Gäste und – nochmals in anderem Kostüm – erzählt zünftige Witze in breitestem Wiener Dialekt, die beim SRF der Sexismus- und Political-Correctness-Schere zum Opfer fallen würden.
Fragezeichen
Überall ist Musik präsent, interpretiert von exzellenten, gruselig maskierten Musiker:innen des Ensembles des Lucerne Festival Contemporary Orchestra. Oder ab Band. Von Bach über Mahler bis Mendelssohn und weiter bis zu Bob Dylan geht die Bandbreite. Herausstechend sind zwei Uraufführungen von Maja S. K. Ratkje. Spannende Musik und Gesänge, die sich inhaltlich leider nur den Journalisten mit Presseunterlagen und Übersetzungen erschlossen. Vor allem der letzte Teil des Abends, als sich die Gäste in der Halle des alten Krematoriums einfanden und das sehr eindrückliche und eindringliche «Thökk (eine Figur der nordischen Totenmythologie) will weep» hörten, hinterliess Fragezeichen in manchem Gesicht. Das Musiktheater-Kollektiv Agora und das Luzerner Theater haben mit «Styx» neue Möglichkeiten der populären, für jedermann zugänglichen Theaterkunst ausgelotet. Ein gelungenes, originelles Konzept, das zeitweilig etwas mehr Erklärung ertragen würde.
Andréas Härry