«Zwei Drittel sind absolviert»
Er war und ist immer noch das Schweizer Gesicht von Covid-19. Daniel Koch ist seit seiner Pensionierung beratend und referierend unterwegs. Der «Anzeiger» traf ihn im Rahmen einer Veranstaltung in Emmen.
Daniel Koch, haben Sie uns zum Start positive Nachrichten zur Pandemie?
Wir werden auch die zweite Welle überstehen, und es kommen immer mehr Hilfsmittel auf den Markt. So werden wir bald Schnelltests haben und im Laufe des nächsten Jahres eine Impfung. Vergleicht man die Pandemie mit einem Marathonlauf, sollten wir aktuell zwei Drittel der Strecke absolviert haben.
Können Sie der aktuellen Welle etwas Positives abgewinnen?
Man könnte sagen: «Lieber jetzt als zur Weihnachtszeit.» Vielleicht kriegen wir es bis dahin in den Griff. Die Leute sollen nicht denken: «Oje, der ganze Winter ist vermiest.» Zu den Festtagen sollte es möglich sein, einigermassen akzeptable und glückliche Umstände hinzubekommen. Ansonsten steigen die Vereinsamung und die Verzweiflung von gewissen Menschen in Bereiche, die wir uns nicht leisten können.
Niemand spricht aktuell von einer dritten Welle …
… aber die wird es geben wie auch folgende. Die Frage stellt sich dazu: Wie kriegen wir es hin, dass wir diese nicht mehr als bedrohlich und dramatisch wahrnehmen, sondern mit den richtigen Massnahmen unter Kontrolle behalten? Wobei wir aufpassen müssen, nicht immer die Massnahme ins Zentrum der Überlegungen zu rücken. Jede Welle muss für sich neu definiert werden. Welche Möglichkeiten haben wir? Was haben wir vom letzten Mal gelernt? Automatisch bei jedem Anstieg zu verkünden: «Jetzt schliessen wir alle Grossveranstaltungen!», ist nicht zielführend.
Warum nicht?
Bei der ersten Welle im Frühjahr wussten wir nicht, worum es geht. Die Basler Fasnacht stand vor der Tür, also war der damalige Entscheid richtig. Aktuell haben wir eine andere Situation mit den Schutzkonzepten und der Nachverfolgbarkeit der Infektionsketten. Sollten wir Letztere aber wieder verlieren, müssen wir die Massnahmen wieder erhöhen.
In der aktuell angespannten Lage wird der Mini-Lockdown ins Spiel gebracht. Der Versuch eines Befreiungsschlags?
Das ist der Versuch einer Schocktherapie mit fraglichem Ausgang. Denn die wichtigste Frage ist nicht geklärt: Wie therapieren wir anschliessend weiter?
Gehen wir zurück an den Anfang dieser Pandemie. Wann haben bei Ihnen erstmals die Alarmglocken geläutet?
In unserer Abteilung für übertragbare Krankheiten sind wir an einem internationalen Frühwarnsystem angeschlossen. Da kommen häufig Meldungen herein. Der erste Hinweis aus China vom Dezember hat niemanden vom Sockel gehauen. Die Glocken gingen erst los am 24. Januar bei einem Kongress von Virologen in Grindelwald, als klar war, dass die Übertragung von Mensch zu Mensch sehr einfach funktioniert. Wobei man zugeben muss: Bis weit in den Februar hinein waren alle Spezialisten international der Meinung, dass man das Virus unter Kontrolle halten werde.
Worauf beruhte diese Annahme?
Nach dem Ausbruch in Wuhan verbreitete sich das Virus in China zuerst zögerlich. Dies, weil die Chinesen extrem harte Massnahmen einführten, die bei uns nicht möglich sind. China sprach auch keine Reisewarnung aus. Das Virus wurde um den Globus verteilt, bevor es die Welt realisierte. Die ersten Infektionsketten in Deutschland und Singapur hatte man unter Kontrolle, dann kamen die ersten Todesfälle in Italien. Da wusste jeder Epidemiologe: «Jetzt ist es zu spät. Die Welle wird kommen.»
Ihre Worte wirkten zu diesem Zeitpunkt aber noch beruhigend. Hatten Sie den Auftrag, den Ball flach zu halten?
Nein, zu diesem Zeitpunkt war das die richtige Beurteilung. Erst als ich Tage später ins Tessin reiste und sah, was dort abging, wurde klar, dass wir die Lage mit normalen Mitteln nicht hinkommen werden. Da haben wir die Kantonsärzte der restlichen Schweiz alarmiert. Das Problem hätte unsere Intensivpflegestationen überfordern können.
Wir reagierten die Schweizer Spitäler?
Da wurde eine Meisterleistung vollbracht. Das sind Grossbetriebe, die innert weniger Tage ihr ganzes Funktionieren umgestellt haben. Ein Beispiel: Genf. Die hatten selbst viele Fälle, übernahmen zudem Patienten aus dem nahen Frankreich und Italien. Selbst die gelangten, dank der Umstellung des Betriebs, nie an die Kapazitätsgrenze. Das ist beeindruckend. Diese Qualifikation gilt übrigens für alle essential services der Schweiz, von der Polizei bis zu den Chauffeuren des Lebensmittelhandels. Niemand verfiel in Panik, Chapeau.
Es gibt Teile der Bevölkerung, die den Behörden keinen Glauben schenken in Sachen Corona. Was läuft falsch?
Es gibt in den USA einen Club, der glaubt, die Erde sei flach. Das ist okay. Eine freie Gesellschaft kann mit solchen Meinungen umgehen, solange sie nicht Grundwerte unseres Staates angreifen. Was mich eher stört, ist der aktuelle Umgang mit der Jugend. Die soll ja schuld sein an der aktuellen Welle. Vielleicht haben wir in der Vergangenheit zu wenig auf die Bedürfnisse dieser Bevölkerungsgruppe gehört. Ich setzte mich stets für die schnelle Lockerung von Massnahmen ein. Mit Verboten erreicht man bei nicht einsichtigen Jugendlichen bekanntlich genau das Gegenteil.
Für Verunsicherung sorgt auch die Uneinigkeit der Fachleute. Sie haben Ihre Zunft nicht im Griff.
Das ist weniger die medizinische als die wissenschaftliche Zunft, die Sie meinen. Das ist unzweifelhaft ein Problem. Es ist normal und wichtig, dass die Wissenschaft untereinander harte Diskurse führt. Aber es ist völlig falsch, diese in der Öffentlichkeit zu führen. Dazu kamen abstruse Meinungen wie der französische Mediziner mit dem Malariamittel und weiteres. Es gehört zu einer Krise, dass plötzlich Experten auftauchen, die man nicht erwartet oder deren Meinungen man einzuholen vergass, die anschliessend die Öffentlichkeit suchen. Die Auswirkungen sind unglücklich.
Was ist Ihr brennendes Anliegen in der aktuellen Pandemiephase?
Die Hürden fürs Testen müssen weiter gesenkt werden, und wir brauchen dringend die Schnelltests. Wenn jemand positiv getestet ist, soll sich sein Umfeld umgehend unbürokratisch auch testen lassen können, anstatt zig Leute einfach in die Quarantäne zu schicken.
Hat die Krise Ihren Blick auf die Schweiz verändert?
Ich bin absolut beeindruckt von der Arbeit des Bundesrates in der ersten Pandemiephase. Wie das Gremium von Hunderten Geschäften und einer Sitzung pro Woche auf fünf Sitzungen und ein Traktandum wechselte – das war Führung. Dass dies in einem Kollegialsystem so gut funktioniert hat, ist eine Meisterleistung.
Zum Schluss: Geben Sie unserem Land eine Schulnote für die bisherige Bewältigung der Krise.
Eine knappe Viereinhalb. Wir sind bis jetzt mit einem blauen Auge davongekommen.
Andréas Härry
Box: Mister Corona
Daniel Koch studierte an der Universität Bern Medizin. Von 1988 bis 2002 war er für das Internationale Komitee des Roten Kreuzes tätig, zuerst weltweit in Krisengebieten, später am Hauptsitz in Genf. 1996 ging Koch für ein Nachdiplomstudium nach Baltimore. Seit 2002 arbeitete er für das Bundesamt für Gesundheit. Er war Mitglied der Taskforce Sars 2002/2003 und Vogelgrippe H5N1. Als Leiter der Abteilung Übertragbare Krankheiten wurde er 2020 «Mister Corona». Im Mai ging Koch in Pension. Im Buch «Daniel Koch – Stärke in der Krise» (werdverlag.ch) gibt er Einblicke in sein bewegtes Leben, gespickt mit vielen Anekdoten.