«Viele Personen wissen nicht, dass sie ADHS haben»

Oliver Obrecht coacht bei ADHS-Luzern Erwachsene und Jugendliche. Im Interview erzählt er, mit welchen Herausforderungen ADHS-Betroffene im Alltag konfrontiert sind und welche Strategien helfen.

Oliver Obrecht, Co-Inhaber von ADHS-Luzern. Bild: zvg

Oliver Obrecht, Sie coachen Erwachsene mit ADHS. Wie viele sind in der Schweiz davon betroffen?
Nach den offiziellen Zahlen haben zirka 4 Prozent der Erwachsenen eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Es existiert aber eine grosse Dunkelziffer, da es viele Erwachsene gibt, die gar nicht wissen, dass sie von ADHS betroffen sind. Man geht davon aus, dass zirka 60 Prozent der betroffenen Kinder auch noch im Erwachsenenalter an ADHS leiden.
 
Tritt ADHS immer bereits im Kindesalter auf? 
Zum grössten Teil wird ADHS vererbt und besteht daher schon bei der Geburt. Bei einem kleineren Teil entwickelt sich ADHS in den ersten Lebensjahren. Es handelt sich dabei um eine Botenstoffstörung im Gehirn, durch die zu wenig Dopamin vorhanden ist. Dadurch werden die Informationen zwischen den Nervenzellen schlechter hin- und hergeleitet. Zudem ist auch der frontale Kortex weniger gut durchblutet. 
 
Ist diese Botenstoffstörung genetisch bedingt?
Es wird angenommen, dass die Genetik einen Einfluss darauf hat. Aber auch andere Faktoren, wie beispielsweise eine Unterversorgung mit Sauerstoff bei der Geburt, können eine Rolle spielen. Zudem tritt ADHS oft mit Zusatzerkrankungen wie Depressionen oder Suchtproblemen auf, die ebenfalls in einem Zusammenhang stehen können. 
 
Wie zeigt sich ADHS bei Erwachsenen? Bestehen Unterschiede zum Kindesalter?
Die drei Leitsymptome von ADHS sind Konzentrationsstörungen, Impulsivität und Hyperaktivität. Bei vielen Betroffe-
nen wandelt sich die Hyperaktivität im Erwachsenenalter in eine innere Unruhe um, weil sie in der Schule und der Arbeitswelt gelernt haben, diese zu unterdrücken und zu kontrollieren. Anstatt laut und auffällig zu sein, wippt man beispielsweise nur noch nervös mit dem Fuss oder treibt täglich Sport, um die Hyperaktivität anderswo zu kompensieren. Das ist aber auch das Tückische daran: Bei Erwachsenen ist ADHS äusserlich zwar oft weniger sichtbar. Der Leidensdruck ist für Betroffene aber dennoch gross.
 
Mit welchen Herausforderungen haben Erwachsene mit ADHS im Alltag zu kämpfen?
Eine grosse Schwierigkeit ist sicherlich die Konzentration. Viele Betroffene berichten davon, dass sie tausend Dinge anfangen, aber nichts zu Ende bringen, weil sie immer von der einen zur anderen Sache hin- und herspringen und nicht an einer Arbeit dranbleiben können. Deshalb kann es zum Beispiel schwierig sein, in einem Grossraumbüro zu arbeiten. Die Geräuschkulisse sorgt dort für zu viel Ablenkung. Genauso herausfordernd kann es aber im Homeoffice sein, da die eigene Wohnung ebenso viele Ablenkungsmöglichkeiten bietet. Viele ADHS-Betroffene haben im Lebenslauf auch häufige Stellenwechsel, weil ihnen schnell langweilig wird oder sie sich im Arbeitsumfeld nicht integrieren können. 
 
Zeigen sich auch im Beziehungsleben Schwierigkeiten?
Ja, ADHS wirkt sich auf alle Lebensbereiche aus. Die Impulsivität birgt viel Konfliktpotenzial. Schon ein kleines Detail kann beispielsweise einen riesigen Streit auslösen. ADHS-Betroffenen fällt es zudem oft schwer, mit Enttäuschungen umzugehen. Eine gute Kommunikation und gegenseitiges Verständnis sind in einer Partnerschaft deshalb umso wichtiger. 
 
Wie unterstützen Sie Erwachsene mit ADHS? 
Unser Coaching baut auf drei Säulen auf. An erster Stelle steht immer die Aufklärung. Viele ADHS-Betroffene wissen gar nicht, welches Problem sie haben. In unseren Beratungen versuchen wir deshalb immer zuerst, Verständnis für das eigene ADHS zu schaffen, das sich von Fall zu Fall sehr unterschiedlich zeigen kann und andere Auswirkungen hat. Oftmals zeigen Betroffene eine grosse Erleichterung, weil sie sich das erste Mal verstanden fühlen.
 
Und dann?
In einem nächsten Schritt identifizieren wir den Bereich, wo der grösste Leidensdruck besteht. Dann legen wir gemeinsam verschiedene Strategien fest. Um mehr Struktur in den Alltag zu bringen, erstellen wir beispielsweise Wochenpläne, etablieren ein Belohnungssystem oder definieren Rituale, die helfen, an einer Sache dranzubleiben. Wichtig ist, dass es verschiedene Strategien gibt, damit es spannend bleibt und genügend Abwechslung besteht. Zudem arbeiten wir mit ADHS-Betroffenen auch an der Akzeptanz der Störung und am eigenen Selbstvertrauen. Viele haben seit der Kindheit das Gefühl, dass sie verkehrt sind. In unseren Coachings versuchen wir, den Selbstwert zu stärken und alte Scham- und Rechtfertigungsmuster zu lösen.
 
Im Zusammenhang mit ADHS spricht man oft von Ritalin. Ist das bei Erwachsenen auch ein Thema, oder sind medikamentöse Behandlungen seltener?
Medikamente sind auch für viele Erwachsene eine wichtige Zusatzunterstützung. Sie helfen, die Konzentrationsschwäche auszugleichen, sodass Betroffene wieder mehr Energie für anderes haben. Das Trainieren von neuen Strategien ist mit der Unterstützung von Medikamenten beispielsweise einfacher. Mittlerweile sind die ADHS-Mittel für 
Erwachsene sehr gut erforscht. Ob man welche nehmen möchte, ist schlussendlich aber immer ein individueller Entscheid. 
 
Könnte die Situation für ADHS-Betroffene in der Schweiz noch verbessert werden?
Ja, ich wünschte mir, dass es noch mehr Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit gäbe. An den Schulen könnten Besuche von Fachpersonen beispielsweise viel bewirken. Zumal ADHS die häufigste Kindheitsstörung ist. Auch Ärzt:innen könnten während ihrer Ausbildung noch besser für ADHS geschult werden, damit Symptome und Anzeichen schneller erkannt werden. Und nicht zuletzt würde es Betroffenen in finanzieller Hinsicht helfen, wenn ADHS-Angebote krankenkassenanerkannt würden. Es besteht also noch Luft nach oben.

Anna Meyer

Mehr Informationen: www.adhs-luzern.ch

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