Sechs Messerstiche und viel Witz

So kann man Krimi auch machen: Der «Mord im Orientexpress» wird zum Comedy-Theater, eingebettet in eine herausragende Ästhetik. Das Publikum macht mit.

Eine Leiche liegt im Abteil, alle sind entsetzt – doch das Ganze ist ein abgekartetes Spiel. Bild: Ingo Hoehn

Noch nie war ein Kirschtörtchen so störend. Zum Showdown am Schluss des Stücks verkündet Hercule Poirot (witzig-souverän: Oliver Losehand) seine Erkenntnisse zur Bluttat und somit die Auflösung des «Mordes im Orientexpress» in ein Mikrofon. Dazu schmatzt der Meisterdetektiv an besagter Süssspeise lustvoll herum. Jeder setzt die Prioritäten halt anders. Die Szene ist symptomatisch für die Regiearbeit von Wojtek Klemm, basierend auf dem deutschen Buch von Michael Raab. Aus Agatha Christies Klassiker mit verschmitztem Humorformte das Kreativteam eine Brachialkomödie. Dabei wird dem gesprochenen Wort Witz beigegeben, aber noch viel mehr der «Action»: Türe auf, Türe zu, Sprints über die Bühne aus allen Richtungen, Rollen übers Bett, Geschrei und Gestöhn, alles Vollgas chargiert. Man hat ungewollte Déjà-vus aus der Filmwelt, von der «Nackten Kanone» bis «Eyes Wide Shut.»

Eingeschneite Fuhre

Jede Rolle hat ihren eigenen «Flick ab», vom stotternden, unbeholfenen Hector MacQueen (herrlich komisch: Hugo Tiedje) bis zur männerfressenden, auch Hochprozentigem aus Flaschen immer zugeneigten Helen Hubbard (herausragend: Tini Prüfert). Pro Memoria der weltbekannte Plot: schillernde Persönlichkeiten, im Roman mehr als auf der Bühne, reisen im Kultzug (gelungener Witz: die von jeder Durchsage bekannten «SBB-Glocken» haben ihren akustischen Auftritt) von Istanbul gen Westen. Auf dem Balkan wird die Fuhre eingeschneit, nichts geht mehr. Samuel Ratchett, eigentlich Lafranco Cassetti, segnet das Zeitliche – durch sechs Messerstiche bearbeitet. Hercule Poirot, emotionell assistiert von Monsieur Bouc, dem Chef der Bahngesellschaft (herrlich überdreht: Meinolf Steiner), ermittelt, dass alle Passagiere an der Tat beteiligt waren. Eine Rache für den Kindsmord an Daisy Armstrong, ausgeführt von Cassetti. Die Messerstechenden standen alle in irgendeiner Form in Verbindung mit der Familie des Kindsopfers. Poirot lässt die konspirative Gruppe ziehen, niemand von «aussen» hat ja etwas gesehen. Der Kommentar dazu von Helen Hubbard: «Die Gerechtigkeit hat uns die Zunge rausgestreckt, wir haben ihr den blanken Hintern gezeigt.» Der einzige ungesühnte Mord im gesamten Werk von Agatha Christie.

Das heftige Überzeichnen der Figuren des Buch-Krimi-Klassikers erreicht auf der Bühne Höhepunkte beim Kindermädchen Mary Debenham (frivol-lustig: Carina Thurner) und beim Militaristen John Arbuthnot (leidenschaftlich: Christian Baumbach). Die gegenseitige Zuneigung der beiden lässt sich auch durch Mordabsichten nicht dämpfen. Zum Glück kommtimmer jemand zur Tür rein im richtigen Moment, sonst müsste man das Theaterstück ab 18 deklarieren. Die russische Prinzessin Natalia Dragomiroff (kühl-amüsant: Wiebke Kayser) hadert mit ihrem Schicksal, «wegen der Bolschewiken» ihren Koffer selbst tragen zu müssen. Die Gräfin Elena Andrenyi (distinguiert: Robi Tissi Graf) hebt sich vom Rest der Gesellschaft ab durch kühlen Intellekt und den wertvollsten Pelz um den Hals. Untermalt oder angetrieben wird das wilde Tun auf der Bühne durch passende Melodien, von launigem Jazz bis zur Filmmusik von Ennio Morricone, gespielt von Martin Gantenbein.

An der Leiche anschmiegen

Eine Klasse für sich sind Bühnenbild und Lichtdesign dieser Produktion (Magdalena Gut und David Hedinger-Wohnlich). Die multiplen Möglichkeiten der zwei frei verschiebbaren «Zugwaggons» ergeben immer wieder neue Spielflächenmöglichkeiten. Das Licht spielt auffällig viel mit dem «Dunkel», lässt die Bühnencrew auch mal im Schattigen agieren. Sehr ästhetisch. Das Bühnenportal zieren vier Monitore, wo entweder der Subtext des Geschehens auf der Bühne bebildert wird oder Liveschaltungen aus dem «Backstage» gezeigt werden. Da lecken die Möder:innen auch mal genussvoll am tötenden Messer oder schmiegen sich in der Gruppe nach getanem Werk an die Leiche. Dies alles ist dermassen schräg, dass keinerlei Graus im Publikum aufkommt, die Wahrnehmung bleibt immer auf der komödiantischen Seite. Die besten Pointen werden rhetorisch gesetzt, wenn zum Beispiel Miss Marple oder Sherlock Holmes – die Konkurrenz quasi – Erwähnung finden. Dass Helen Hubbard auch schon mal etwas mit einem «Zachanassian» (aus Dürrenmatts «Besuch der alten Dame») hatte: sehr lustig. Amüsant der Running Gag, Hector McQueen französische Namen konsequent gemäss Schreibweise phonetisch aussprechen zu lassen («Waggon Litz»). Ebenfalls gelungen der Einfall, den obligaten Zigarettenrauch, den ein Agatha-Christie-Roman natürlich begleiten muss, noch sichtbar mit entsprechenden Maschinen beständig zu verstärken. Wer die «Seriosität» der Buchversion des Krimis von Christie bestens kennt, braucht eine Weile, bis er sich dieser Comedy-Bühnenvariante voll hingeben kann. Dann aber kommt Spass auf an dieser entstaubten «Mord im Orientexpress»-Variante, die schauspielerisch vollumfänglich überzeugt und viel Spannendes sowie Stimmungsvolles fürs Auge bietet. Das Publikum der Premiere honorierte den mordlustigen Abend mit langem Applaus.

Andréas Härry

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