«Musik ist keine Mathestunde»

Seit acht Wochen steht eine neue Chefin der Musikschule Emmen vor. Brigitte Annoff (52) spricht Klartext über die Herausforderungen, Jugendliche heute für ein Instrument zu begeistern. Die Leiterin will moderne Unterrichtsformen und bietet neue Kurse an.

Brigitte Annoff vor der Musikschule Emmen, dem Schaubhus. Bild: Andréas Härry

Brigitte Annoff, warum sollen Kinder im Jahre 2020 ein Musikinstrument lernen?
Wer ein Instrument beherrschen will, das gilt auch fürs Singen, muss sich Kompetenzen aneignen. Dazu gehören technische, aber vor allem auch soziale und emotionale Komponenten. In der Gruppe, im «zusammen musizieren» entstehen wunderschöne Erlebnisse. Die fortschreitende Individualisierung des Lebens erhöht die gesellschaftliche Wichtigkeit des Musizierens.

Ist es schwierig, die jungen Leute heute zu erreichen?
Im Zeitalter der fast vollständigen Digitalisierung, von vollen Schulstundenplänen und vielen sonstigen Verpflichtungen, ist Musizieren nicht mehr Teil des Kinder- und Jugendalltages. Musik wird vorab allein mit dem Display konsumiert, vielleicht noch an Konzerten oder in der Disco. Selbst Musik machen war früher das Normalste der Welt, heute ist es auf dem Rückzug. Da muss die Musikschule Brücken bauen vom digitalen Alltag zur Welt der analogen Musik.

Brutal formuliert: Die Musikschule ist ein Auslaufmodell.
(Denkt lange nach.) Ich stimme dieser Aussage zum Teil zu. Ich präzisiere aber sofort: Das gilt nur für eine traditionelle, auch heute noch gepflegte Art des Unterrichtens. Viele Musikschullehrerinnen und -lehrer sehen sich als Teil der Bildungslandschaft. In 30 Minuten Unterricht muss das Kind enorm viel auf die Reihe kriegen. Noten lesen, das Instrument beherrschen, üben, repetieren und nochmals repetieren. Man könnte dies auch durch eine Stunde Mathematik ersetzen, alles ist kopflastig und leistungsorientiert. Dies hat wenig mit «Musik erleben» zu tun. Es dauert zu lange, oft Jahre, bis das Kind befähigt ist, im eigentlichen Sinne zu musizieren. Ich würde das gerne umdrehen. Das Musizieren wird vorab gefördert, auch wenn’s am Anfang kaum «Fleisch am Knochen» hat. Motivation entsteht, die gebraucht wird, um danach die Technik und Theorie zu entwickeln.

Ein Gegenprogramm zur heutigen Praxis?
Musik ist Teil der Unterhaltung des Menschen, sorgt für schöne Emotionen. Solche müssen immer im Musikunterricht aufkommen. Ich war kürzlich in Kontakt mit der Musikhochschule Luzern. Wir haben uns über Unterrichtsformen ausgetauscht. Es zeigt sich, dass es besser ist, zum Teil «weniger gut» zu musizieren, dafür aber mit mehr Lust und in der Gruppe. Wenn jemand Musikpädagoge oder -pädagogin werden will, wird in der Ausbildung eigentlich nur die Virtuosität abgefragt. Vielmehr sollte man fragen: «Warum hast du Lust, zu unterrichten?» Musikpädagogen sind Feuer und Flamme für ihr Instrument. Sie müssen aber auch Feuer und Flamme sein für die Arbeit mit Kindern.

Sie wollen also den Unterricht an der Musikschule Emmen revolutionieren?
(Schmunzelt.) Bleiben wir bescheiden. Ich will unsere Pädagogen sensibilisieren für unseren Auftrag, möglichst viele Kinder mit schönen Emotionen an die Musik zu führen. Die Schüler sollen nebst der Instrumentenbeherrschung auch Integration erleben, Freundschaften aufbauen, Mitmachen bei Dingen, die zu Hause am Display nicht möglich sind. Dazu muss die Musikschule vernetzt sein mit der Volksschule, Vereinen, Partnern aus dem Kulturleben. Der reine Bildungsaspekt darf ruhig etwas weniger gewichtet sein.


Wo haben Sie solche Unterrichtsformen selbst angewendet?
Ich habe am Konservatorium in Lausanne 16 Jahre lang einen Lehrgang für angehende Musicaldarstellerinnen und -darsteller aufgebaut und geleitet. Dies hat die Musicalszene in der Suisse romande nachhaltig professionalisiert und stimuliert. Dazu kam mein Einsatz für die Erhöhung des Stellenwertes des nichtklassischen Gesangsunterrichts. Wobei ich das Kapitel Gesang unterrichten und das Singen jetzt für mich persönlich abgeschlossen habe.

Haben Sie zu viel Bühnenluft abgekriegt?
Zu viel gibt es nicht, aber ich stand lange auf der Bühne! Musicals waren meine Leidenschaft, bereits in Holland, wo ich aufgewachsen bin und zuerst als Primarlehrerin tätig war. Es folgte die Musikhochschule, die ich in Jazz- und Popgesang mit dem Lehrdiplom abschloss. Mit 25 kam ich wegen der Liebe – die bis heute anhält – in die Schweiz. Als Freelance-Sängerin war ich in den Bereichen Jazz, Pop und natürlich Musical tätig. Dazu gab ich immer Gesangsunterricht, vorab für angehende Profis. Mit meinem Mann habe ich zudem zwei Kinder grossgezogen, die musikalisch aktiv sind, wenn auch nicht professionell.

Musicals sind der rote Faden in Ihrem Leben.
Ich stand unter anderem bei «Evita» auf der Bühne, und bei «Les Misérables» in Lausanne war ich sogar Co-Produzentin. Musicals vereinen so viele Kunstformen auf einmal und erzeugen eine wunderbare Publikumsnähe.

Was nehmen Sie von diesen Erfahrungen mit nach Emmen?
Wir sprachen über neue Unterrichtsformen. Ab Oktober führen wir einen Gruppenkurs «Musicals!», wo wir junge Talente von 9 bis 16 an die grossen Emotionen dieser Shows heranführen wollen – in Gesang, Schauspiel und Bewegung. Geleitet wird dieser Kurs von der Musicaldarstellerin und Gesangspädagogin Irène Straub.

Zum Schluss schauen wir in die Glaskugel: Wie sieht die Musikschule Emmen im Jahr 2026 aus?
Wir haben tolle Orchester, grossartige Chöre, eine super Musicalklasse. Mit diesem Formationen treten wir oft auf. Die Musikschule Emmen ist an der Volksschule präsent mit tollen Konzepten, wie man Kinder für Musik begeistern kann. Mir liegen Eltern in den Ohren, weil ihre Kinder unbedingt mitmachen wollen. Wir pflegen interdisziplinäre Partnerschaften mit verschiedenen Kulturplayern, und die Gemeinde Emmen ist stolz auf ihre Musikschule, die nicht nur kostet, sondern auch hell ins Gemeindeleben strahlt.

Andréas Härry
Mehr Infos: www.musikschule-emmen.ch

Weitere Artikel zu «Region», die sie interessieren könnten

Region26.02.2024

Adieu, «Anzeiger Luzern»

Vom englischen Königshaus, von einem Podium unter Polizeischutz, Weltstars wie Anne-Sophie Mutter oder Joss Stone bis zum «falschen» Barenboim: Nach vielen…
Stadt Luzern: besseres Rechnungsergebnis
Region26.02.2024

Stadt Luzern: besseres Rechnungsergebnis

Für das Jahr 2023 verzeichnet die Stadt Luzern einen Gewinn von 80 Mio. Franken, obwohl ein Verlust von 31,2 Mio. Franken budgetiert war.
Tourismus Luzern: fast komplette Erholung
Region26.02.2024

Tourismus Luzern: fast komplette Erholung

In der Stadt Luzern haben im Jahr 2023 20,8 Prozent mehr Gäste übernachtet als im Vorjahr und 3,9 Prozent weniger als 2019.