In Vielfalt geeint oder einfältig isoliert?
Im Mai 2021 hat der Bundesrat die Verhandlungen mit der EU über ein gemeinsames Rahmenabkommen einseitig beendet. Wirtschaftlich betrachtet ist Europa ein Erfolgsgarant für unser Land. So gingen 2019 aus der Zentralschweiz rund 60 Prozent der Exporte nach Europa, was über dem schweizerischen Durchschnitt von 54 Prozent liegt. Aus dieser Perspektive ist der Verhandlungsabbruch bedauerlich. Der notwendige Neustart mit einer Lösungsfindung wird Jahre dauern. Der Bundesrat und das Parlament sind deshalb gefordert, die Interessen der exportorientierten Schweizer Wirtschaft im Ausland gemäss Verfassungsauftrag rasch wahrzunehmen. Denn die bilateralen Verträge erodieren und die damit verbundenen Auswirkungen lassen nicht lange auf sich warten.
So gelten etwa die Hersteller von Medizinalprodukten für die EU seit Ende Mai 2021 wieder als Drittlandlieferanten. Es kostet zusätzlich Zeit und Geld, dass sie ihre Produkte weiterhin in die europäischen Länder liefern können. Ähnlich gelagerte Auswirkungen erhöhen den Handlungsdruck für die Schweiz. Trotz des Verhandlungsabbruches gab es in der Öffentlichkeit keinen grossen Aufschrei. Vermutlich sorgt eine grundsätzliche Skepsis gegenüber Europa dafür, die jüngsten Entwicklungen mit einem Schulterzucken hinzunehmen. Doch woher stammt dieses Misstrauen gegenüber der EU?
Schweiz lebt Europaidee seit 1848
Im Kern nimmt Europa mit dem Motto «In Vielfalt geeint» auch die DNA des unseres föderalen Bundesstaates auf. Die Gründung Europas als Antwort auf die grössten Katastrophen des 20. Jahrhunderts ist vergleichbar mit dem Schweizer Experiment von 1848, bei dem sich ein Bund von kulturell, gesellschaftlich, sprachlich und wirtschaftlich vielfältiger Staaten (Kantone) nach dem Sonderbundskrieg zum Bundesstaat zusammenschlossen. So gesehen hatten wir mit dem Motto «Einheit in der Vielfalt» bereits hundert Jahre Erfahrung, als sich Europa nach dem Zweiten Weltkrieg diesen Leitsatz auf die Fahne schrieb. Auch in der Zentralschweiz wurde die Europaidee damals belebt.
Im luzernischen Hertenstein versammelten sich 1946 rund 80 Vertreter aus ganz Europa zur Konferenz der Schweizer Europa-Union. Auf dem Rütli verabschiedeten sie das «Hertensteiner Programm», das den Grundstein für einen föderalen Bundesstaat Europa bilden sollte. Man wollte Europa von unten aufbauen und demokratisch legitimieren. Doch die Gruppe verschwand in der Versenkung, die europäische Einigung feierte vor allem wirtschaftliche und friedenspolitische Erfolge. Die Schweiz blieb damit in der Europafrage mit einer skeptischen Grundhaltung zurück, die vergleichbar ist mit jener der Zentralschweizer Kantone bei der Gründung der modernen Schweiz von 1848. Wir haben die Haltung verinnerlicht, dass weder die Schweiz noch Europa konstruiert werden können, sondern nur mit der Zeit organisch und föderalistisch wachsen.
Souveränität heisst mitdiskutieren
Demgegenüber stehen die Herausforderungen und die Chancen einer globalisierten und vernetzten Welt, die weit über unsere Gemeinden, Kantone und die Nationalstaaten hinausreichen. An dieser Realität zerbricht unser romantisches Verständnis einer isolierten Souveränität. Einer Souveränität, dank der wir vermeintlich autonom und isoliert unseren Wohlstand verwalten. Einer Souveränität, bei der wir uns bei Bedarf in unser voralpines Schneckenhaus zurückziehen und von dort aus eine erfolgreiche Zukunft gestalten. Wir sind aber in vielen Bereichen längst nicht mehr souverän in diesem Sinne. Souverän ist vielmehr, wer am Tisch sitzt und mitdiskutiert. Nicht aber, wer sich zurückzieht und isoliert. Das haben auch die Zentralschweizer Kantone nach dem Schock von 1848 und dem widerwilligen Start ins Abenteuer Bundesstaat schnell gemerkt und sind seither am Erfolgsprojekt Schweiz mitbeteiligt.
Es ist daher aufgrund unserer Geschichte verständlich, dass wir uns schwertun mit dem übergeordneten Projekt eines vereinten Europas. Mit Blick auf unsere Zukunft mit Europa dürfen wir aber trotz aller Selbstständigkeit und föderaler Kleinräumigkeit die Vorteile und die Notwendigkeit einer zusammenwachsenden, vielfältigen Einheit nicht vergessen. Sonst enden wir im Gegenteil: einer einfältigen Isolation.
Adrian Derungs
Anmerkung der Redaktion: In der Ausgabe vom 27. Juli wurde fälschlicherweise die Kolumne vom 13. April abgedruckt. Wir entschuldigen uns für den Fehler.