«Ich habe es befürchtet»

Die Studie der Universität Zürich über die Missbrauchsfälle in der Katholischen Kirchgemeinde Luzern, wühlt auf – auch in Luzern. Innert weniger Tage kam es zu zahlreichen Austritten.

310 Austritte seit Publikation der Studie: die Katholische Kirche Luzern in tumultuösen Zeiten. Bild: Andréas Härry

Die Obrigkeiten der Kirche unterschätzten den Nachhall des Papiers. Ihre ersten Voten nach Erscheinen der Pilotstudie wirkten halbherzig, händeringend nach Erklärungen suchend, die noch einen kleinen Teil des Geschirrs retten könnten. Erst in einer zweiten Runde, Ende letzter Woche, mit Kameras des Schweizer Fernsehens vor der Nase, rangen sich die Herren in langen Gewändern durch zu Formulierungen, die «an der Front», in den Kirchgemeinden, schon seit längerem Usus sind. «Es macht betroffen und fassungslos», sagt die Ratspräsidentin der Katholischen Kirche Luzern, Susanna Bertschmann, die sich seit Erscheinen der Studie zig Stunden mit der Thematik intern und gegen aussen beschäftigen musste. «Schockiert wäre das falsche Wort, denn leider muss ich sagen: Ich hab’s befürchtet.» Die Missbrauchsthematik in der Katholischen Kirche sei ja nichts Neues. «Es wäre doch naiv gewesen, zu glauben, dies finde überall statt ausser bei uns.» Wobei sich Susanna Bertschmann an keinen Fall in jüngerer Zeit in der Stadt Luzern erinnern kann. «Möge es so bleiben.»

Ein Punkt ist Bertschmann wichtig, festzuhalten: «Zugutehalten muss man der Kirche, dass die Studie von ihr initiiert wurde.» Auftraggeber waren die Schweizer Bischofskonferenz (SBK), die mit Laien besetzte Römisch-Katholische Zentralkonferenz (RKZ) und die Konferenz der Ordensgemeinschaften und anderer Gemeinschaften des gottgeweihten Lebens in der Schweiz (Kovos).

Dokumentiert werden 1002 Fälle von sexuellem Missbrauch in «sozialen Räumen der Katholische Kirche». In 39 Prozent der Fälle waren die betroffenen Menschen weiblich, in 56 Prozent männlich, bei 5 Prozent ist die Datenlage unklar. Die Missbrauchenden waren, bis auf wenige Ausnahmen, Männer. 74 Prozent der Taten sind sexuelle Missbräuche an Minderjährigen, 14 Prozent an Erwachsenen, bei 12 Prozent ist wiederum die Datenlage unklar. Die Studie bewegt die Menschen nicht nur zum Reden, sondern auch zum Handeln. «Im ganzen letzten Jahr hatten wir rekordmässige etwas über 800 Kirchenaustritte auf ein Total von rund 28 000 Mitgliedern. Seit der Publikation der Studie am 12. September bis heute sind es 310 Austritte», sagt Susanna Bertschmann. Bemerkenswert teilweise der Tenor: «Räumt jetzt endlich auf, dann sind wir auch bereit, wieder einzutreten!»

Leibesfeindliche Sexualmoral

«Es ist Zeit für einen Kultur- und Strukturwandel», sagt Bertschmann. Dabei müsse alles aufs Tapet. «Vorab natürlich die Prüfung der menschlichen Eignung von Persönlichkeiten fürs Priesteramt.» Aber dann geht es ans Grundsätzliche. Die Abschaffung des Zölibats ist in unseren Breitengraden zweifelos mehrheitsfähig. Doch das ist nur eine Massnahme. Die generell leibesfeindliche Sexualmoral, die Diskriminierung der Frauen bei der Ausübung von Kirchenämtern, der Ausschluss der LGBTQI-Community aus dem Kirchenleben und vieles mehr müssen auf die vatikanische Tagesordnung. «Der Druck muss von unten kommen, von uns, auf die Bistümer. Die Aussage der Bischöfe, dass man in Rom vergebens anklopfe mit Forderungen, darf nicht mehr sein, dieser Zug ist abgefahren.» Susanna Bertschmann will nicht mehr, dass die Kirche in Europa und in Entwicklungsregionen mit anderen gesellschaftlichen Normen «über einen Kamm geschert wird». Bereits jetzt emanzipiert sich die Kirche in unserem Land. «Wir machen in der Schweiz Dinge, vorab im zeremoniellen Bereich, die eigentlich nicht erlaubt sind», sagt die Präsidentin, die noch klarer wird: «Werden wir nicht erhört, müssen wir uns revolutionieren.» Die Stadt Luzern sei generell schon «modern, progressiv unterwegs», nicht immer zur Freude des Bistums, das zeitweise «beide Augen zudrücken muss», sagt Bertschmann.

Nationaler, finanzieller Aufstand

Ein weiteres Druckmittel gegenüber den Bischöfen und Rom ist das Geld. Wie beurteilt die Kirchenratspräsidentin die Idee verschiedener bis jetzt kleiner Kirchgemeinden, die Abgaben an die Landeskirche auf ein Sperrkonto einzubezahlen? «Das finde ich von der Idee her zwar gut, in der Umsetzung halte ich es jedoch für einen eher hilflosen Versuch.» Der Kanton Luzern zählt aktuell 81 katholische Kirchgemeinden mit sehr unterschiedlicher Steuerkraft. Einzelaktionen von Kirchgemeinden bergen die Gefahr, dass man sich verzettelt. «Es ist richtig, den finanziellen Druck aufzubauen, aber das muss von der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz und den Landeskirchen initiiert werden.» Die römisch-katholische Landeskirche des Kantons Luzern bezahlte im Jahr 2022 insgesamt knapp 1 Mio. Franken zugunsten des Bistums. Ein nationaler, finanzieller Aufstand, das würde «wehtun».

Im ganzen Diskurs in und rund um die Katholische Kirche bedauert Susanna Bertschmann, dass man aktuell ausblendet, was die Institution auch in diesen tumultuösen Zeiten an Gutem leistet für die Gesellschaft. «Im sozialen Bereich, bei der Jugend- und Quartierarbeit, für die älteren Menschen», zählt sie auf. «Auch das Stadtbild pflegen wir durch den Unterhalt unserer Kirchen.» Die soziale Kompetenz der Kirche ist aktuell sehr gefragt. «Den Missbrauchsopfern muss Gerechtigkeit widerfahren: durch Anerkennung der Taten, die Garantie, dass nichts unter den Teppich gekehrt wird, und Genugtuung, unter Umständen auch in finanzieller Art», so Bertschmann.

Andréas Härry

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