«Hemmungen abbauen»
Rahel Lüönd und Daniel Schriber lassen in «Zweiheimisch» zwölf Persönlichkeiten zu Wort kommen, die ihre Wurzeln ausserhalb der Schweiz haben.
Die Schweiz ist ein Musterbeispiel für die multikulturelle Gesellschaft. 40 Prozent der Bevölkerung zwischen Genf und Bodensee hat einen sogenannten Migrationshintergrund. Sie kamen in die Schweiz, vielfach durch unschöne Lebensumstände in den Heimatländern getrieben, wurden hier sesshaft, nahmen oft die Staatsbürgerschaft an.
In zweiter Generation sind sie, dank eines oder beider Elternteile, zumindest emotional mit einem anderen Land verbunden. Sie sind «zweiheimisch». Die Luzernerin Rahel Lüönd und der Luzerner Daniel Schriber erzählen in ihrem gleichnamigen Buch zwölf Lebensgeschichten von Bürgerinnen und Bürgern der Schweiz, die in ihrem Wesen und ihren Ansichten von zwei Nationen geprägt sind.
Die Lektüre ist spannend, die Bandbreite reicht vom ehemaligen Saisonnier aus Italien bis zur Iranerin mit Gefängniserfahrung in ihrem Heimatland. In süffiger Sprache und verschiedenen Erzählformaten werden Fakten, Emotionen, aber auch Meinungen dargelegt. «Wir haben die Beteiligten jeweils in ihrem Umfeld besucht», sagt Co-Autor Daniel Schriber. «Wir orientierten uns an Leitfragen, die in jedem Interview thematisiert wurden, zum Beispiel: Welchen Einfluss hat die Migrationsgeschichte auf die Persönlichkeit und den Lebensweg?» Auch die Definition des Heimatbegriffs ist ein roter Faden durch die Erzählungen.
Grunddankbarkeit
Ansonsten wird aber die ganze Vielfalt der «Zweiheimischen» aufgezeigt. Die Schweiz-Portugiesin, die als Kantonsrätin aktiv ist, die Schweiz-Tamilin, die auf Social Media und in der Medienwelt Karriere macht, der Hip-Hopper mit westafrikanischen Wurzeln, der in seiner Kindheit die ganze Bandbreite von Alltagsrassismus erlebte, der Schweizer Professor, der vom albanischen Aussenseiter in der Schule zum Mathematiker und Physiker mit ETH-Doktorat avancierte, und viele mehr. Berührend und gleichzeitig packend sind die Lebensgeschichten der Flüchtlinge aus Syrien und Eritrea, die den blanken Horror in ihren Herkunftsländern erlebten. Sie konnten sich in der Schweiz eine glückliche Existenz aufbauen. Als Leserin, als Leser entwickelt man sofort Sympathie für den Protagonisten des Buches. Die Frauen und Männer aller Altersklassen äussern zwar auch pointierte Meinungen zum Leben in unserem Land, halten Schweizerinnen und Schweizern den Spiegel vors Gesicht. Nie endet dies aber in einer giftigen Abrechnung oder einem Forderungskatalog. Selbst bei Lebensläufen, die in der Schweiz nicht immer geschmeidig abliefen, bleibt eine Grunddankbarkeit gegenüber der Schweiz. «Wir haben kein politisches Buch geschrieben», bestätigt Co-Autor Daniel Schriber. «Wir freuen uns jedoch, wenn das Buch zum Denken anregt und vielleicht sogar dazu führt, dass bestehende Gedankenmuster hinterfragt werden.» Die Grundmotivation für das Verfassen des Werks holte Daniel Schriber aus Jugenderlebnissen. «Ich habe keinen Migrationshintergrund, bin aber mit vielen ‹Zweiheimischen› aufgewachsen, verbrachte Zeit im Basketballverein mit Kindern und Jugendlichen aus vielen Ländern und Kulturen.» So entwickelte der Autor und Journalist Sensibilität für das Thema. «Die Arbeit an dem Projekt war nicht nur spannend und fordernd, sondern auch inspirierend und häufig berührend.»
Eine gute Idee der Autorin und des Autors ist das Einbinden von Informationen über die Herkunftsländer der porträtierten Personen. In kurzen historischen Abrissen werden die politischen und die gesellschaftlichen Gegebenheiten aufgezeigt, die Migrantenströme auslösen. Dazu gibt es Rückblicke auf die Entwicklungen unseres schweizerischen Verhältnisses zur Emigration. Wird der italienische Arbeitnehmer heutzutage kaum noch als «Fremder» wahrgenommen, war dieser vor 50 Jahren Auslöser heftigster innenpolitischer Debatten.
Immer ein «Grüezi!»
«Zweiheimisch» überzeugt durch inhaltliche Vielseitigkeit und sprachliche Sorgfalt, das Buch bietet gehaltvollen Lesespass. Zudem ist der Band ästhetisch stimmungsvoll gestaltet durch Martina Stadler mit den Fotos von Paolo De Caro. Die Autorin und der Autor können mit diesen Porträts Vorbilder schaffen für die Tausenden von Migrantinnen und Migranten, die bereits hier sind oder nächstens den Schritt in die Schweiz wagen. Aber nicht nur. «Wünschenswert wäre, wenn das Buch in die Hände von Personen gelangt, die wenig Berührungspunkte mit Einwanderern haben, es könnte helfen, Hemmungen abzubauen und Goodwill füreinander zu schaffen», sagt Daniel Schriber. Die Porträtierten haben für diese hehre Absicht ihre eigenen Rezepte entwickelt: «Wenn wir uns zurückhalten und sie sich zurückhalten, wie sollen wir dann zueinanderfinden?», fragt die Eritreerin Semhar Gebrehiwet. Ihr Mittel dagegen: «An mir kommt niemand ohne ein ‹Grüezi!› oder ‹Hoi!› vorbei.»
Andréas Härry
Heute Dienstag, 5. Oktober, findet in der Kornschütte Luzern um 19 Uhr die Buchpräsentation von «Zweiheimisch» statt. Bezugsquellen für das Buch: edition-decaro.ch