«Habe gelitten wie ein Hund»
Dr. Walter Raaflaub erkrankte 2002 selbst an Prostatakrebs. Um anderen Betroffenen zu helfen, spricht er offen über Inkontinenz und Impotenz, häufige Folgen der radikalen Prostataoperation.
Walter Raaflaub, Ihr Buch «Tote Hose – Worüber Männer schweigen» ist ein Bestseller geworden. War es immer Ihr Ziel, ein Buch zu schreiben?
Nein, überhaupt nicht. Tagebuch zu führen, war auch früher meine Art der Verarbeitung. Erst später kam die Idee, mein Buch könnte anderen Männern und deren Frauen helfen. Die vielen Blumen und über hundert Briefe nach der Veröffentlichung haben gezeigt, dass der Entscheid richtig war.
Die Unterstützung ist das eine. Sie wollen aber auch Aufklärungsarbeit leisten ...
Ja, das ist so. Pro Jahr sterben rund 1300 Männer an Prostatakrebs, jährlich gibt es 6100 neue Fälle. Die Männer lassen sich diesbezüglich noch zu selten untersuchen.
Wann macht es Sinn?
Ab 50 Jahren sollten sich Männer im Rahmen einer kurzen Aufklärung erstmals testen lassen. Einige haben mir geschrieben, ihre Hausärzte hätten das Problem nicht ernst genug genommen. Das ärgert mich. Erst kürzlich hat mir ein Bekannter geschrieben, ihm sei gesagt worden, man werde die bereits erhöhten Blutwerte erst in einem Jahr erneut kontrollieren. Sein Brief beziehungsweise das Resultat war niederschmetternd.
Weshalb?
Weil der Krebs innerhalb dieses Jahres über die Prostatakapsel hinausgewachsen ist. Das Ergebnis: Der Mann ist nach der Operation impotent und zum Teil inkontinent, der Krebs jedoch ist immer noch da.
War das auch bei Ihnen das Problem – wurde zu lange gewartet?
Ich wusste, dass ich schon lange an einer wiederkehrenden Entzündung der Prostata litt. Nach einem Antibiotikum war der Wert aber jeweils wieder gesunken. Schliesslich hatte ich meinen Urologen jedoch gebeten, die kleine Operation oder TUR-P vorzunehmen. Da kam der Krebs zum Vorschein. Es ist extrem wichtig, dass, wenn der PSA-Wert einmal erhöht ist, der Arzt dranbleibt. Wenn ein Krebs ausserhalb der Prostatakapsel die Lymphknoten befällt, sinken die Heilungschancen deutlich.
Der PSA-Wert kann aber auch aus einem anderen Grund erhöht sein …
Ja, das ist richtig. Wenn Sie beispielsweise regelmässig Velo fahren oder reiten, kann dies den PSA-Wert genauso erhöhen wie eine Prostataentzündung. Der Arzt oder die Ärztin müssen das bei einem Check erfragen.
Wie haben Sie die Krankheit erlebt?
Ich hatte die Diagnose im Jahr 2002, mit 61 Jahren, erhalten, 2003 folgte die radikale Prostatektomie, bei der die Prostata samt Kapsel, die Samenblasen und die regionalen Lymphknoten entfernt werden. Wegen einer schweren Nachblutung musste notfallmässig nachoperiert werden. Seither bin ich zu hundert Prozent impotent und inkontinent.
Wie war es für Sie, impotent und inkontinent zu werden?
Ich habe gelitten wie ein Hund. Praktisch gleichzeitig, wie ich meinen Koffer für die Operation packte, erhielten wir die niederschmetternde Nachricht, dass meine Schwägerin Darmkrebs mit Lebermetastasen hatte. Ihre Krankheit hat mich von meinem Gejammer weggeführt. Ich habe realisiert, dass es anderen noch viel schlimmer geht. Mit ihrem Tod im Frühjahr 2006 endet mein Buch.
Ihre Frau ist ebenfalls Ärztin. Wie ging sie mit Ihrer Erkrankung um?
Wir waren bei meiner Diagnose im Jahr 2002 bereits 28 Jahre verheiratet und hatten nie Probleme, über intimste Dinge zu sprechen. Rückblickend habe ich mich aber nach der eingetretenen Impotenz und Inkontinenz dermassen radikal zurückgezogen, dass ich es mir heute weder erklären noch vorstellen kann. Ich empfand selbst eine Umarmung oder einen Kuss als gespielt, denn ich wusste ja, dass hinterher nichts laufen würde. Das wurde immer schlimmer; nach rund drei Monaten gab es eine tränenreiche Aussprache, die eine ganze Nacht dauerte. Danach konnten wir schon bald besser damit umgehen.
Ist Ihre Frau mit Ihrer Impotenz gut klargekommen?
Meine Frau brachte offenbar weit mehr Verständnis dafür auf, als ich gedacht hätte. Aber ich konnte dieses Verständnis anfänglich nicht abholen. An einer Veranstaltung mit mehreren hundert Zuhörenden wandte sich meine Frau mit der Botschaft an die Männer: «Ihre Frauen haben viel mehr Verständnis für Ihre schwierige Situation, als Sie dies für möglich halten!»
Wie hat Ihr Umfeld auf Ihre Offenheit reagiert?
Sehr positiv. Ich habe allgemein sehr viele Rückmeldungen erhalten. Von hundert Zuschriften war bisher lediglich eine negative dabei.
Hat Sexualität für Sie heute eine andere Bedeutung?
Nach der angesprochenen Krise wollten wir versuchen, wieder ein Sexualleben zu haben. Der Versuch ist geglückt. Allerdings schlafen wir viel seltener zusammen, und wenn, dann nicht spontan, denn es muss ja eben geplant und mit Spritzen oder einer Vakuumpumpe vorbereitet sein.
Wie gross ist die Wahrscheinlichkeit, wegen Prostatakrebs inkontinent und impotent zu werden?
Beides sind nicht direkte Folgen des Krebses, sondern Nebenwirkungen der radikalen Prostataoperation. Kann bei Früherkennung des Krebses allenfalls ein Teil der Prostata oder die Kapsel geschont werden, ist die Gefahr der kompletten Inkontinenz wesentlich geringer, etwa 1 bis 5 Prozent. Die Wahrscheinlichkeit, nach der radikalen Operation teilweise oder ganz impotent zu sein, wird in vielen Kliniken offen angesprochen.
Wie sehr beeinträchtigt Sie die Inkontinenz?
Nach zweieinhalb unangenehmen und schwierigen Jahren liess ich mir 2006 einen künstlichen Blasenschliessmuskel implantieren. Er gab mir unglaublich viel Lebensqualität zurück. Nach mehr als acht problemlosen Jahren wurde ich erneut undicht. Die 2015 eingesetzte, engere Manschette wirkt nun auch nicht mehr genug, sodass ich erneut Einlagen trage. Ich kann aber immer noch ein normales Leben führen.
Wie geht es Ihnen heute?
Mir geht es nach bald 48 Jahren an der Seite meiner verständnisvollen Ehefrau blendend. Ich bin letzte Woche 80 Jahre alt geworden und bin mir bewusst: Ich habe auch gesundheitlich grosses Glück gehabt. Bei mir war der Krebs bereits an der Kapsel dran, aber noch nicht darüber hinausgewachsen.
Marcel Habegger
Box: Vortrag und Buch
Unter dem Titel «Krebs beim Mann – Test für die Beziehung» führt die Krebsliga Zentralschweiz am 18. November um 19 Uhr eine Informationsveranstaltung zum Thema «Prostata- und Hodenkrebs» für Betroffene und Interessierte im Marianischen Saal in Luzern durch.
Anmeldungen telefonisch unter 041 210 25 50 oder über das Formular auf der Website.
Mehr Infos: www.krebsliga.info.
Buchtipp: «Tote Hose – Worüber Männer schweigen» von Walter Raaflaub, 18.90 Franken.