Gewaltzunahme in Familien
Aktuelle Auswertungen einer Studie der Hochschule Luzern zeigen, dass die Gewalt von Erwachsenen gegenüber Kindern nach dem Lockdown zugenommen hat.
Die Massnahmen der Corona-Krise haben das Leben insbesondere während des Lockdowns verändert. Es gilt, einen zweiten Lockdown aus wirtschaftlichen Gründen zu vermeiden – aber auch wegen der Einschränkungen ausserfamiliärer Kontakte, die sich negativ auf das Befinden und die psychische Gesundheit der Bevölkerung auswirken können.
In verschiedenen Schweizer Studien wurde bereits übereinstimmend über die Zunahme von Spannungen und Konflikten in Familien während der Corona-Pandemie berichtet. Aktuell werden die Zahlen zu häuslicher Gewalt aus polizeilichen Daten und Beratungen von Opferhilfestellen bezogen. Jedoch ist bekannt, dass sich Betroffene aus Scham oder Angst vor Rache nur selten an solche Stellen wenden. Dies führt zu einer Dunkelziffer. Um diese Lücke zu füllen, hat die Hochschule Luzern eine repräsentative Bevölkerungsbefragung gestartet, um das Zusammenleben in den Familien während des Lockdowns und in den ersten Monaten danach zu analysieren. In der Studie wurden zwei Zeiträume angeschaut: der Lockdown von Mitte März bis am 11. Mai und die Zeit nach dem Lockdown während vier Wochen in den Monaten Juli und August.
Physische Gewalt häuft sich
Die Befragten gaben im Durchschnitt an, dass das Klima in ihren Familien sowohl zum Zeitpunkt der Befragung im Juli/
August als auch während des Lockdowns eher harmonisch war und es weniger Spannungen und Reibereien gab. Auffällig ist, dass sich das Familienklima nach dem Lockdown leicht verschlechtert hat. Besonders Konflikte mit Kindern haben sich gehäuft. «Die lange Dauer der Pandemie scheint an den Nerven der Menschen zu nagen. Das Klima in einem nicht unbeträchtlichen Teil der Familien hat sich verschlechtert. Dies kann ein Nährboden für Gewalt sein», sagt Paula Krüger, Studienautorin und Dozentin. 4,5 Prozent der Befragten gaben an, während des Lockdowns Gewalt gegen mindestens ein Kind ausgeübt zu haben. Die Zahl erhöhte sich nach dem Lockdown im Sommer sogar auf 5,6 Prozent. Hier ist anzumerken, dass Befragte, die ohne Garten, Terrasse oder grossem Balkon auskommen mussten, oder solche, die im Homeoffice gearbeitet haben, häufiger gewalttätig gegenüber Kindern waren. «Eine naheliegende Erklärung ist, dass hier das Fehlen von räumlichen Ausweichmöglichkeiten zu einer Erhöhung von konflikthaften Situationen geführt haben könnten», so Krüger.
Das Gleiche trifft auf Befragte zu, die das Familienklima während des Lockdowns als eher unharmonisch und konflikthaft einschätzten. Hierzu zählen vor allem Familien mit schwierigeren finanziellen Verhältnissen. Zudem waren Personen, die ältere Angehörige pflegten, oder Personen in Familien, in denen minderjährige Kinder zumindest teilweise während der Arbeit von den Eltern betreut wurden, häufiger gewalttätig als Personen ohne Betreuungs- oder Pflegeaufgaben. Dabei handelt es sich vor allem um psychische Gewalt wie beispielsweise wiederholte Beschimpfungen und selten um körperliche oder sexuelle Gewalt.
Unterschätzung des Ausmasses
Eine Einordnung dieser Resultate durch einen Vergleich mit Dunkelfeldstudien aus der Zeit vor der Pandemie ist nicht möglich, da diese nach Gewalterfahrungen eines längeren Zeitraumes fragen. Ausserdem ist davon auszugehen, dass die Auswertungen immer noch eine Unterschätzung des tatsächlichen Ausmasses innerfamiliärer Gewalt während der Pandemie in der Schweiz darstellen.
Obwohl sich die beiden Zeiträume aufgrund der unterschiedlichen Dauer nicht direkt vergleichen lassen, ist anzumerken, dass während des kürzeren Zeitraums im Sommer 2020 sogar häufiger Gewalt gegen Kinder ausgeübt wurde als während des doppelt so langen Zeitraums im Lockdown. Die Studie deutet somit darauf hin, dass sich die negativen Auswirkungen der Corona-Massnahmen auf das Zusammenleben der Menschen in der Schweiz erst zeitversetzt zeigen. Ausserdem wird deutlich, dass die Pandemie keine neuen Risikofaktoren erzeugt hat, sondern vielmehr bekannte Faktoren verstärkt hat – also dort, wo es häusliche Gewalt schon früher gab, wurde sie während der Pandemie verstärkt. «Aus unserer Sicht – und auch aus Sicht anderer Expertinnen und Experten – gilt es weiterhin, sofern vertretbar, weitere Teillockdowns oder gar einen kompletten Lockdown zu vermeiden. Das entlastet Familien und kann so auch gewaltpräventiv wirken», sagt die Studienautorin Paula Krüger.
Elma Softic