«Eine Kindheit mit ADHS»

Wie ist es, ein Kind mit ADHS grosszuziehen? Daniela Chirici veröffentlicht ein Buch über ihre Erfahrungen. Die Wahl-Luzernerin will aufklären – und anderen Eltern Mut machen.

Daniela Chirici mit ihren beiden Söhnen Kilian (Mitte) und Silvan. Bild: Pawel Streit

Daniela Chirici, Ihr Sohn Kilian ist von ADHS betroffen. Sie liessen ihn seit klein auf zehn Jahre lang vom SRF begleiten, um seine Entwicklung zu dokumentieren. Warum haben Sie diese Geschichte öffentlich gemacht?
Ich habe mir sehr lange überlegt, ob ich Kilian filmisch begleiten lassen will. Der ausschlaggebende Grund für mich war, dass ich ADHS als Gesamtbild zeigen wollte. So oft dreht sich in der öffentlichen Diskussion alles nur um Medikamente. Dabei steckt so viel mehr dahinter. Ich wollte mit den Dokumentarfilmen den Alltag mit all seinen Schwierigkeiten und Herausforderungen beleuchten, aber auch ein Bewusstsein für die tollen Stärken schaffen, die ein ADHS-betroffenes Kind mitbringt. 

Und wieso haben Sie nun noch ein Buch darüber geschrieben?
Ich habe über Jahre für eine ADHS-Zeitschrift Berichte über Kilians Entwicklung verfasst. Aus diesen Texten wollte ich etwas machen und habe sie nun deshalb zu einem Buch zusammengefasst. Das Buch soll Eltern, Lehrkräften, Therapeuten und anderen Betroffenen Mut machen und zeigen: Es lohnt sich, dranzubleiben – bei jedem Kind! 

War das auch der Grund, dass Sie sich zur Elternberaterin und zum ADHS-Coach ausbilden liessen?
Ja, ich hatte gemerkt, dass es für Beratung einen grossen Bedarf gibt. Ich habe viele Anfragen erhalten, als ich Kilians Geschichte öffentlich machte. Für die Eltern ist die Hürde kleiner, wenn sie mit jemandem reden können, der die Thematik kennt. Es braucht nicht viele Worte, da mir ihre Situation vertraut ist. Gleichzeitig sehe ich mich auch als Anlaufstelle für Schulen. Es ist sehr wichtig, dass alle Beteiligten zusammenarbeiten und im selben Boot sitzen. 

Im Buch beschreiben Sie Reaktionen aus Ihrem Umfeld, in denen oft das Verständnis für Kilians Erkrankung fehlte. Wie geht man damit um?
Ich wurde früher oft von Eltern angegriffen. Viele waren der Meinung, ich sei unfähig, meinen Sohn richtig zu erziehen. Und dies, obwohl wissenschaftlich belegt ist, dass ADHS eine Stoffwechselerkrankung im Gehirn und kein Erziehungsproblem ist. Das war hart, und ich habe gelernt, mir eine dicke Elefantenhaut zuzulegen. 

Erleben Sie das heute immer noch so?
Nein, nach den SRF-Filmen hat sich das sehr verändert. Viele konnten meine Situation besser verstehen und haben mich unterstützt, anstatt zu kritisieren. Das zeigt, wie wichtig die Aufklärung über ADHS ist. 

Was war für Sie die grösste Herausforderung, ein Kind mit ADHS grosszuziehen?
Eine grosse Schwierigkeit war das Sozialverhalten gegenüber den anderen Kindern. Kilian fiel es schwer, seine Energie zu dosieren, und er machte sich mit seiner Impulsivität unbeliebt. Auch der Familienalltag musste immer genau durchstrukturiert und auf ihn angepasst sein. Wir haben das sehr gerne gemacht. Trotzdem war es für die Familiendynamik nicht immer einfach. Am herausforderndsten war aber sicherlich, dass Kilian seinen Weg durch die obligatorische Schulzeit findet.

Was manchmal auf der Kippe stand. Kilian wurde zweimal von der Sonderschule suspendiert. Hätten Sie sich in diesen Situationen noch mehr institutionelle Unterstützung oder spezialisierte Angebote gewünscht?
Es gibt im Kanton Luzern zwei Sonderschulen für verhaltensauffällige Kinder. Verhaltensauffälligkeit kann aber sehr variieren. Diesen unterschiedlichen Bedürfnissen mit zwei Schulen gerecht zu werden, finde ich sehr schwierig. Deshalb würde ich mir noch mehr Institutionen wünschen, die verschiedene Konzepte und Rahmenbedingungen bieten, um individueller auf die jeweiligen Fälle eingehen zu können. 

Im Buch wird deutlich, dass auch der Alltag neben der Schule sehr anstrengend sein kann und viele Ressourcen seitens der Eltern erfordert. Wie haben Sie es geschafft, trotzdem dranzubleiben?
Durch die unerbittliche Mutterliebe zu meinem Sohn. Ich wusste, dass er es ohne meine Hilfe nicht schafft. Das hat meine Energie am Leben erhalten. Ich habe aber auch gelernt, mir immer wieder Pausen rauszunehmen – und zwar nicht erst, wenn das Glas ganz leer ist. Ich habe regelmässig kleine Auszeiten gemacht, mir mal ein Wellnesswochenende gegönnt, Musik gespielt oder Freunde getroffen. Dieses Loslassen und Vertrauen, dass es auch mal ohne mich funktioniert, war sehr wichtig. Und auch die langjährige Begleitung von Kilians Psychologen und Verhaltenstherapeuten hat uns sehr geholfen. 

Wie geht es Kilian und Ihnen heute?
Uns geht es gut. Kilian ist jetzt 19 Jahre alt und hat die obligatorische Schulzeit erfolgreich abgeschlossen. Er macht zurzeit ein praktisches Lehrjahr und geht jeden Tag selbstständig und pünktlich zur Arbeit. Kilian geht seinen Weg – und auch ich habe wieder mehr Freiheiten. 

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Dass Kilian noch selbstständiger werden kann, irgendwann ausziehen und ein junger, erwachsener Mann werden darf. Auch meinem zweiten Sohn wünsche ich, dass er seinen Weg geht. Für mich persönlich hoffe ich, dass ich andere Eltern und Kinder weiter unterstützen kann und beruflich weiter Fuss fasse. 

Zum Schluss: Welchen Rat geben Sie anderen betroffenen Eltern?
Bleiben Sie dran, es lohnt sich! Vergessen Sie nicht, dass ADHS-Kinder viele Stärken und Fähigkeiten besitzen, die sie nur zu nutzen lernen müssen. Und lesen Sie mein Buch (lacht). Es gibt Mut, Hoffnung und einige nützliche Tipps.

Anna Meyer


Informationen zu diesem Buch: «Eine Kindheit mit ADHS», erschienen im Hogrefe-Verlag, Bern, und seit Montag im Handel.

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