«Ein Drittel würde das Problem lösen»

Naturnahe Immobilien sind gefragter denn je. Eine Erhebung der Stiftung Natur und Wirtschaft mit Sitz in Luzern zeigt, dass solche Siedlungsräume aber äusserst rar sind. Geschäftsführerin Manja Van Wezemael erklärt, wieso es am Angebot mangelt.

Juwel im Innenhof: Wildstaudenbeet in der Wohnsiedlung Obermühleweid in Cham. Bild: PD

Manja Van Wezemael, zuallererst zur Klärung: Was ist unter einem naturnahen Aussenraum zu verstehen? 
Der Begriff «naturnah» hat sich in den letzten Jahrzehnten etabliert. Grundsätzlich sind all unsere grünen Aussenräume menschengemacht und können deshalb nicht mit der Natur gleichgesetzt werden. Wenn wir aber auf unserem Balkon oder im Garten einheimische Pflanzen so kombinieren, dass sie gemeinsam ein stabiles Ökosystem ergeben, können wir von «naturnahen» Aussenräumen sprechen. 

Wieso sind naturnahe Aussenräume so wichtig?
Durch die Art, wie wir leben, konsumieren, bauen oder konventionelle Landwirtschaft betreiben, zerstören wir Lebensräume der Tier- und Pflanzenwelt. Mit den freien Aussenflächen in Siedlungsräumen haben wir die Chance, der Natur etwas zurückzugeben. Anstatt einen Rasen zu pflanzen, der der Natur keinen Mehrwert bietet, können wir mit einheimischen Gewächsen Ersatzlebenswelten für Pflanzen und Tiere schaffen. Mit der richtigen Bepflanzung geben wir beispielsweise Insekten oder Igeln Nahrung und Unterschlupf. Naturnahe Aussenräume sind ein wichtiger Beitrag, um die Artenvielfalt zu erhalten, die durch unsere Lebensweise leider immer mehr verloren geht. 

Bringt eine naturnahe Umgebung auch Vorteile für uns Menschen?
Es gibt zahlreiche Untersuchungen, die beweisen, dass eine natürliche Wohnumgebung einen positiven Einfluss auf unsere Gesundheit hat. Nachgewiesen sind beispielsweise ein tieferer Blutdruck und eine niedrigere Pulsfrequenz. Zudem hilft Natur ums Haus uns Menschen generell beim Entspannen. Auch vor der zunehmenden Sommerhitze in den Städten schützt eine Bepflanzung. Ein weiterer Aspekt, der sich zwar nicht mit Studien belegen lässt, liegt darin, dass wir uns in einer natürlichen Umgebung viel mehr mit der Natur verbunden und geerdet fühlen. Dies bestärken auch Befragungen, die zeigen, dass nahe der Natur zu leben ein Grundbedürfnis von uns Menschen ist. 

Ist demzufolge die Nachfrage nach natürlichen Lebensräumen hoch?
Unsere Erhebung vom Sommer 2018 zeigt, dass sich rund 70 Prozent der Befragten einen Aussenraum mit mehrheitlich einheimischen Pflanzen wünschen. Gar 90 Prozent gaben an, eine giftfreie Pflege zu bevorzugen. Die Nachfrage ist also definitiv da. Auch bei den Entscheidungsträgern – beispielsweise Investoren und Immobilienentwickler – sind die Erkenntnis der steigenden Nachfrage sowie ein Verantwortungsgefühl gegenüber der Natur feststellbar.

Dann dürften also bereits viele naturnahe Siedlungsräume bestehen?
Leider nein. In vier von uns untersuchten Gemeinden waren gerade mal drei Prozent der Parzellen naturnah gestaltet. Wir gehen davon aus, dass dieser Anteil in der Stadt Luzern ähnlich tief ausfällt. 

Wie erklären Sie sich diese grosse Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage?
Das grosse Problem ist, dass das Wissen sehr klein ist. Ein grosser Teil der Menschen, die sich zwar eine naturnahe Umgebung wünschen, kennt sich zu wenig damit aus und weiss nicht, welche Aussenräume naturnah sind. Auch auf der «Herstellerseite» mangelt es an Fachkenntnis. Immobilienentwickler sind auf eine gute Beratung angewiesen, damit sie beim hochkomplexen Bauprozess eine naturnahe Umgebung berücksichtigen und von Anfang an die richtigen Fachleute einbeziehen können. 

Hat dies für Investoren nicht hohe Kosten zur Folge?
Grundsätzlich ist eine naturnahe Umgebung nicht teurer. Gerade bei Neubauprojekten, bei denen eine solche Umgebung von Anfang an miteingeplant werden kann, wird der Aufwand nicht grösser. Es braucht aber wie gesagt mehr Fachwissen. Und dies ist meiner Meinung nach das grösste Hindernis: Es muss während des ganzen Bauprozesses bis und mit Betrieb unter Einbezug der entsprechenden Fachpersonen noch ein weiteres Thema berücksichtigt werden. Dieser suggerierte Mehraufwand zahlt sich aber aus: Eine naturnahe Umgebung ist angesichts der grossen Nachfrage definitiv ein Vermarktungsvorteil.

Wäre das Potenzial für eine naturnahe Umgebung in Luzern gross?
Das Potenzial wäre sehr gross. Gerade am Stadtrand Richtung Horw und Kriens, wo grosse neue Wohnsiedlungen entstehen, sind die Möglichkeiten vielfältig. Mit einigen dieser Bauherren arbeiten wir bereits zusammen. Aber auch Einfamilien- oder Mehrfamilienhäuser haben grosses Potenzial und können mit kleinen Massnahmen einen Beitrag zu mehr Biodiversität leisten. 

Welchen Beitrag will die Stiftung zu mehr Biodiversität leisten?
Wir sind im Kontakt mit verschiedenen Investoren, Bauherren, Wohnbaugenossenschaften oder Immobilienverwaltern. Im Gespräch finden wir heraus, welche Unterstützung sie benötigen, und versuchen diese zu erbringen. Wir können beispielsweise gute Gärtner oder Landschaftsarchitekten mit dem nötigen Fachwissen empfehlen, nehmen Qualitätskontrollen und Zertifizierungen vor und begleiten zertifizierte Areale auch längerfristig. Im Gegensatz zu einer energiesparendenden Bauweise ist Biodiversität noch ein jüngeres Thema und braucht vermehrt noch einen Anstoss von aussen. Diesen Anstoss wollen wir geben. 

Wie sähe eine ideale Stadt für Sie aus?
In einer idealen Stadt würden mindestens 30 Prozent von jedem Aussenraum der Natur zur Verfügung gestellt werden. So wäre eine flächendeckende Vernetzung möglich, bei der einzelne Lebensräume miteinander verbunden sind. Es reicht nicht, eine einzelne Wiese in einem Innenhof zu pflanzen. Es benötigt eine weitere Wiese in der Nähe, auf die Insekten und Käfer «zügeln» können, falls Erstere gemäht wird. Wir verlangen aber bewusst nur 30 Prozent. Für jeden Aussenraum müssen auch die entsprechenden Rahmenbedingungen berücksichtigt werden. Diese Bedingungen sind genauso legitim. Es sollen sich schliesslich alle wohl in ihrer Umgebung fühlen. Wenn jeder Aussenraum aber schon nur zu einem Drittel naturnah gestaltet würde, wäre das Problem Biodiversität gelöst.

Anna Meyer

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