Die June Carter aus Luzern
Die Melodien von Anna Mae lassen die Hörenden in die Weiten Nordamerikas entfliehen. Geschrieben wurden die ohrgängigen Songs im Kanton Luzern, von Nadja Limacher, einer jungen Frau mit spannender Biografie.
Wer beim Klang der Musik von Johnny Cash gute Vibes verspürt, der sollte sich dem neuen Album von Anna Mae zuwenden. Ein paar Melodien ihrer ersten CD «Out Of The Woods» klingen wie Songs des Meisters, aber ohne deren Patina und natürlich moderner instrumentiert. Die Komponistin, im bürgerlichen Leben als Nadja Limacher unterwegs, unterstreicht ihren Draht zum genialen Country-, Gospel- und Rockabilly-Star. «Ich liebe diesen Mann, seine Arbeiten inspirieren mich beim Songschreiben.» Um bei der Familie Cash zu bleiben: Die Stimme von Anna Mae hat ein markantes Timbre, das auch der Ehefrau von Johnny, June Carter, eigen war.
Weitere Assoziationen macht man bei den rockigeren Titeln zur jungen Chi Coltrane, in lüpfigeren Songs im traditionellen Countrystil gar zur amerikanischen Gottheit der Countryszene, Dolly Parton. «Ich mag diesen Musikstil, der bei uns oft unterschätzt wird», sagt Nadja Limacher. «Countrymusic ist nicht nur Linedance.» Besonders die Balladen seien gesanglich und musikalisch fordernd. Den Vorwurf des Repetitiven bei den Melodien lässt Nadja Limacher nicht gelten. «Dieser Eindruck entsteht, wenn man nicht dahinterschaut.» Insbesondere das Storytelling, das Geschichtenerzählen, fasziniert Nadja, wobei sie wieder Johnny Cash erwähnt mit seinen nicht immer nur sonnigen Liedtexten.
Die Initialzündung zur Countrymusik-Liebe erfuhr Nadja Limacher vor 20 Jahren. «Meine erste, eigene CD war eine Country-Compilation mit Stars der Szene.» Zudem lief zu Hause immer DRS1, wo Country einst einen hohen Stellenwert genoss. Tina Turner war bei den Eltern angesagt, was bei Nadja einen nachhaltigen Eindruck hinterliess. Die Resultante war ihr Künstlernamen Anna Mae, hergeleitet vom Geburtsnamen einer der grössten weiblichen Popstars aller Zeiten, Anna Mae Bullock. «Tina Turner ist für mich ein Vorbild, ihre Frauenpower beeindruckt mich.» Seit 2010 lebt die heute 31-Jährige ihre Bewunderung im Bühnennamen.
Lernen zu verzichten
Nadja ist Berufsmusikerin, 2016 hängte sie den sicheren Bürojob an den Nagel, hörte nicht auf ihr Umfeld. «Alle haben mir abgeraten, so etwas sei finanziell nicht zu stemmen.» Nadja Limacher wollte die Erfahrung selbst machen und bereut es nicht. «Natürlich ist es schwierig, in der Schweiz als Singer-Songwriterin finanziell zu bestehen, es geht nur, wenn man lernt zu verzichten.» Auf Shoppingtouren zum Beispiel. Ein Sommerjob in der Badeanstalt finanziert ihre Ferien. Es funktioniert. Ausser in Pandemie-Zeiten, in denen sie, wie die ganze Welt der Kunst, nur eines vor Augen hat: «Ich will zurück auf die Bühne.» Die Zeit bis dahin überbrückt sie mit Liederschreiben.
An der Gitarre entwickelt sie Ideen für die Melodien, die Texte folgen anschliessend. «Ich lasse mich von vielem inspirieren, auch von langen Spaziergängen in der Natur.» Die Countrysängerin bezeichnet sich als Landei, aufgewachsen mit zwei jüngeren Schwestern. «Ich bin sehr dankbar, dass ich eine Jugend auf dem Bauernhof erleben durfte.» Stark beeinflusst haben sie vier Jahre, in denen die Familie im Burgund gelebt hat. Aus dieser Zeit ist viel Frankofonie hängen geblieben, auch musikalisch. «Ich kann mir durchaus vorstellen, ein Album mit französischen Chansons aufzunehmen.» Ein KV und die Wirtschaftsmittelschule waren die bürgerlichen Ausbildungen. Es folgten die Jahre im Büro.
Während Nadja am PC sass, summte im Kopf Anna Maes Countrymusik. «Die Unzufriedenheit äusserte sich auch psychisch und körperlich.» Der Schritt in die Selbstständigkeit und Musik war eine Befreiung, «ich hörte erstmals nur auf mich selbst». Bereits 2012 hatte Nadja ein Musikstudium in London absolviert. 2018 folgte eine Konzertreise über den nordamerikanischen Kontinent, eingeladen vom Festival Canadian Music Week. «Das war eine Referenz, so konnte ich eine Tour buchen im mittleren Westen der USA», erzählt die Sängerin. «Das Interesse war gross, insbesondere, weil ich auch französische Chansons interpretierte.»
Kommerzielles Potenzial
Die aktuelle CD ist rein englisch. Die Songs hat Nadja Limacher im Laufe der letzten zehn Jahre geschrieben. Sie wurden für «Out Of The Woods» optimiert und neu arrangiert. Eine Arbeit, die Nadja zusammen mit ihrem Produzenten Steffen Peters sowie der Hilfe von Freunden wie US-Pedal-Steel-Gitarrist Brian Wilkie, der schwedischen Liederschreiberin Hanna Vinter oder dem hiesigen Bassisten Andi Schnellmann realisierte. Herausgekommen sind zehn sorgfältig produzierte Nummern, die herrlich ins Ohr gehen und unbestritten kommerzielles Potenzial haben. Entsprechende Ambitionen hegt Nadja Limacher. «Klar, schauen wir über die Grenzen der Schweiz hinaus, Frankreich hat Interesse bekundet, Amerika wäre ein Traum, aber da bin ich natürlich eine von unendlich vielen.»
Primärer Fokus ist der Schweizer Markt. «Ich will ein Statement setzen, auch bei den Profis der Branche.» Angesprochen auf die aktuell laufende Sendung «Sing meinen Song, das Schweizer Tauschkonzert» auf TV 24, sagt sie lachend: «Klar gehöre ich dorthin.» Abwegig ist dies nicht: Sie ist in ihrem Genre in der Schweiz qualitativ an vorderster Front tätig. Im Hintergrund läuft «Wolves In The Woods» des neuen Albums, ein Bluegrass-Americana-Folk-Titel, wie ihn Johnny Cash kaum anders geschrieben hätte. «Ich liebe dieses Lebensgefühl, diese Weite», sagt Nadja Limacher aus dem Luzerner Hinterland, die als Anna Mae in die Weiten Amerikas aufgebrochen ist.
Andréas Härry