«Das ist wie auf einer Hühnerleiter»

Der ehemalige SBB-Chef Benedikt Weibel (75) ist trotz seines Alters noch sehr aktiv. Im Interview spricht er über den Wert des Alters und darüber, wie er mit dem Altern selbst umgeht und wie er die ÖV-Entwicklung in Bezug auf die Senior:innen beurteilt.

Benedikt Weibel fürchtet nicht das Alter, sondern die Routine. Bild: Michael Stahl

Benedikt Weibel, am Pro-Senectute-Talk ist das Thema «Marktwert Alter: Potenziale nutzen und fördern – zu welchem Preis?». Wie hoch schätzen Sie Ihren Marktwert noch ein?
Als monetäre Grösse ist das sehr schwierig zu beurteilen. In Bezug auf die Aufmerksamkeit sind die äusseren Umstände entscheidend. Ich war vor der Pandemie sehr engagiert, danach war die Agenda plötzlich leer. Ich habe die Zeit genutzt, um mein siebtes Buch zu schreiben («Wege und Irrwege zu einem nachhaltigen Verkehr», ist seit September 2021 im Handel, die Red.). Jetzt ist die Aufmerksamkeit wieder hoch. 

Sie sind mit 75 beruflich noch sehr engagiert, anderseits ist es für Arbeitstätige bereits ab 50 Jahren schwierig, noch einen Job zu finden. Welche Lösungsansätze haben Sie diesbezüglich?
Ich bin mit diesen Einschätzungen überhaupt nicht einverstanden. Entscheidend ist, was man macht. Ich habe dazu zwei Grundsätze: Man muss neugierig und lernbegierig bleiben. Ich glaube, das sind Mythen, die da gepflegt werden. Wenn beispielsweise jemand aus dem IT-Bereich aufhört dranzubleiben, ist er logischerweise irgendwann weg vom Fenster. Aus meiner Sicht ist da jeder Einzelne selbst gefordert. 

Wo macht sich das Alter bei Ihnen bemerkbar?
Das macht sich natürlich seit Jahrzehnten bemerkbar, da muss man sich nichts vormachen. Ich hab das beispielsweise als Bergsteiger gespürt – das Gleichgewichtsgefühl ist ein gutes Beispiel, auch die Beweglichkeit. Mit diesen Veränderungen muss man umgehen können, ich bin aber auch davon überzeugt: Wenn man dranbleibt, kann man den Alterungsprozess hinauszögern.

Macht Ihnen das Altern auch Angst?
Nein, damit habe ich kein Problem. Ich habe mir schon früh gesagt: Ich zerbreche mir über Dinge, die ich nicht ändern kann, nicht den Kopf. Deshalb hatte ich auch kein Problem mit Corona. Ich passe mich den Umständen an und mache, was möglich ist. Der Rhythmus, der aus Intensität und Erholung besteht, ist dabei auch sehr wichtig. Ich freue mich jedes Mal auf das Wochenende und die Ferien, und ich hoffe, das kann ich noch lange so weiterführen.

Sie könnten ja nur noch Ferien machen ...
Ich fürchte diese Gleichförmigkeit. Ich denke, ist diese zu ausgeprägt vorhanden, altert man wohl auch schneller. 

Schätzen Sie etwas am Alter besonders?
Ich habe gelernt, mich an den kleinen Dingen zu freuen. Wenn ich am Abend mit meiner Frau ein Bier trinke auf der Terrasse, ist das wunderbar, oder auch wenn ich den ersten Magnolienbaum oder an der Aare das junge Buchenlaub sehe, sind das sehr schöne Momente. Rituale sind mir auch sehr wichtig.

Wie sehen diese bei Ihnen aus?
Wir gehen jeden Samstag in der Dorfbeiz einen Kaffee, ein Gipfeli und ein Spiegelei mit Speck essen. Das war früher schon ähnlich. Der Samstag war immer der wichtigste Tag für mich. Nach einem Frühstück in der Stadt habe ich im Büro jeweils während fünf bis sechs Stunden die Woche aufgearbeitet und die nächste Woche vorbereitet, danach ging ich mit meiner Frau lange joggen. Ich habe nie was nach Hause genommen. 

Wie sind Sie auf das Alter vorbereitet?
Ich glaube, ich bin sehr gut darauf vorbereitet. Das wird ja auch nicht mein erster Anlass mit der Pro Senectute sein (lacht). Es ist wichtig weiterzugehen. Ich habe im Moment wieder einen sehr intensiven Job.

Genau, Sie sind ja noch ehrenamtlich für den Verkehr des Eidgenössischen Schwing- und Älplerfests in Pratteln zuständig ...
Das ist eine Riesenkiste. Wir haben sieben Ressorts. Zwei bis drei von uns sind noch berufstätig, die anderen sind alle pensioniert. Es ist super, wie die alle engagiert sind.

Wie beobachten Sie die Entwicklung des öffentlichen Verkehrs in Bezug auf das Alter? Der Einstieg in einigen Zügen, wie beispielsweise beim Inter-City-Neigezug, ist immer  noch sehr hoch ...
Der Inter-City-Neigezug ist nun einfach so. Was aber geändert werden kann, ist die Höhe des Perrons. Wenn das Perron 55 Zentimeter hoch ist, ist der Einstieg gar kein Problem. In Bern wurden Hunderte von Millionen Franken verbaut, aber das Perron ist immer noch auf 35 Zentimetern. Die ist wie einer Hühnerleiter. Ich hatte letzten Herbst selbst die Hüfte operieren lassen und weiss, wie unangenehm der Ein- und Ausstieg so sein kann. 

Also gibt es Nachholbedarf?
Es hat sich unglaublich viel verbessert, auch wenn ich da beispielsweise an die Niederflurtrams denke. Es gibt Dinge wie eben die tiefen Perrons, die ich nach wie vor nicht nachvollziehen kann, aber im Vergleich mit Ländern wie Deutschland sind wir sehr gut unterwegs. Wir haben heute an jedem Bahnhof Rampen. 

Gibt es Länder, die beim ÖV im Bereich Alter weiter sind als die Schweiz?
Das glaube ich nicht. Entscheidend war der Moment vor der Volksabstimmung zur Bahn 2000 im Jahr 1987. Wir hatten damals eine riesige Veranstaltung zum Thema «Bahn 2000 auch für behinderte und ältere Menschen». Damals wurden Menschen mit einem Rollstuhl noch mit dem Hubstapler durch den Bahnhof gefahren und in den Gepäckwagen verfrachtet. Wir haben danach schnell eine beauftragte Person für Behindertenwesen eingesetzt und vieles verändert. Die Rampen sind heute natürlich für alle Leute ein Segen. Ich glaube, dass wir uns diesbezüglich auf einem hervorragenden Niveau befinden.

Marcel Habegger

 

Box: Podiumsdiskussion am Donnerstag, 9. Juni 2022 im KKL Luzern «Marktwert Alter: Potenziale nutzen und fördern – zu welchem Preis?»
Zeit: 17 Uhr.
Ort: KKL Luzern, Konzertsaal.
Teilnehmende: Marie-Theres «Maite» Nadig, ehemalige Schweizer Skirennfahrerin, Doppel-Olympiasiegerin; Julia Onken, Autorin, Gründerin und Leiterin des Frauenseminars Bodensee; Dr. Benedikt Weibel, ehemaliger Geschäftsleiter der SBB; Eveline Widmer-Schlumpf, Präsidentin des Stiftungsrates Pro Senectute Schweiz.
Moderation: Kurt Aeschbacher.
Eintritt: 35 Franken. Bereits für 2020 und/oder 2021 gekaufte Tickets behalten ihre Gültigkeit oder können rückvergütet werden.

Tickets unter: kkl-luzern.ch, Telefon 041 226 77 77.

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