Das Gas weckt Begierden
Die Open-Air-Produktion «Revue des Folies – Doktor Ox» ist eine schräge, optisch und gestalterisch opulente, aufwendige Show mit süffiger Musik und herausragenden Solisten.
Das Orchester schmettert den «Cancan» aus «Orpheus aus der Unterwelt» von Jaques Offenbach über den Theaterplatz, auf der Bühne vergnügt sich ein enthemmtes, sehr farbiges Ensemble mit Mensch und Material. Emil-Manser-Imitator:innen schmeissen die Beine in die Höhe, dazu zuckt das Licht musicalmässig, viel Bühnenrauch steigt in den sommerlichen Luzerner Abendhimmel. Der Titel der Veranstaltung «Revue des Folies», die Revue der Verrücktheiten, passt! Die showmässige Apotheose der Theatersaison.
Zurück auf Feld eins. Jules Verne (1828– 1905), französischer Schriftsteller und Fantast (unter anderem «20 000 Meilen unter dem Meer»), verfasste 1872 die schräge Kurzgeschichte «Doktor Ox»: einen Plot über einen Naturwissenschafter, der das belgische Provinznest Quiquendone als Schauplatz für ein Experiment mit einem neuartigen Gas ausgewählt hat. 1877 realisierte der deutsch-französische Komponist Jacques Offenbach daraus eine Operette, die nach Kurzerfolg in den Archiven verstaubte.
Im späten 20. Jahrhundert wurde das Werk wiederentdeckt, 1980 in Dresden auf Deutsch erstaufgeführt. Auf Basis dieser Version realisierte ein Team rund um Dramaturgin Johanna Mangold und dem musikalischen Leiter James Hendry diese Luzerner Version. Dabei wurde am Libretto geschraubt und musikalisch Hand angelegt. Ein Viertel der Originalmusik flog aus dem Stück und wurde durch Melodien aus anderen Offenbach-Werken – wie «Orpheus» – ersetzt. Dazu Klänge von weiteren Komponisten, so Giuseppe Verdi. Die Ouvertüre wurde neu komponiert, darin wird unverfroren-amüsant unter anderem Johann Strauss zitiert. In einer «Revue» ist alles erlaubt.
Geliebt, geneckt, verkleidet
Auf der Bühne wird die Story des «Doktor Ox» erzählt, der das besagte flandrische Kaff mit dem die Sinne und Gelüste anregenden Gas quasi in Geiselhaft nimmt. Thematische Assoziationen zu einem lebenden Kriegsherrn im Osten werden von den Kreativen im Programmheft ausdrücklich erwähnt. Die euphorisierende Wirkung von «Oxygen» trifft in der Provinz auf eine Dorfgemeinschaft mit den üblichen Operettenherausforderungen. Es wird querbeet harmlos geliebt, geneckt, verkleidet, versteckt und getäuscht. Das Gas lässt Dimension und Emotionalität dieser «Problemchen» wachsen. So wird aus Zuneigung blanke Begierde, im letzten Akt kulminierend in einer (nur) humorvollen Orgie. Männerköpfe verschwinden unter Damenröcken oder entdecken homoerotische Neigungen. Zum Schluss wird der Gashahn definitiv zugedreht, «Doktor Ox» aus Quiquendone verjagt, leider zum Preis des Ablebens der treibenden Kraft der Rettung des Dorfes, «Prascovia», der Tochter des ursprünglichen Erfinders von «Oxygen».
Womit wir zum exzellenten Cast dieser Produktion gelangen, dominiert von der in jeder Hinsicht opulenten Marcela Rahal in der Rolle der «Prascovia». Was für eine Stimme und eine Präsenz! Auf gleichem Level agiert die verschmitzt-quirlige Tania Lorenzo Castro als «Lotsche», die Entdeckung im LT-Ensemble dieser Saison. Das Duett der beiden Frauen ist der gesangliche Höhepunkt des Abends. Die Bösewichte der Show, Robert Maszl als «Doktor Ox» und Ziad Nehme als sein Assistent «Ygen», interpretieren ihre Rollen mit hämischem Charme im warmen Gesang. Der Bürgermeister der gasgetunten Gemeinde, «Herr von Tricasse», und seine Gemahlin werden von Christian Tschelebiew und Caroline Vitale vorab schauspielerisch überzeugend gegeben, man euphorisiert sich quasi solidarisch mit ihnen. Das gesanglich-solistische Ensemble des Luzerner Theaters agiert durchs Band auf einheitlich beeindruckender Flughöhe – wie auch schon während der ganzen Saison: ein Genuss.
Spielerische Lust und Schmiss
Die Nachwuchstalente aus dem Studienlehrgang «Bühnentänzer:innen EFZ, Fachrichtung Musical/Show» der «Musical Factory Luzern» (Choreografie: Guido Zimmermann) in den Rollen des achtfach vorkommenden Luzerner Originals und Strassenkünstlers Emil Manser († 2004) verstärken Emotionen, sind als Pantomimemusiker oder real spagatausführende Dancecrew im effektvollen Einsatz. Das 21-köpfige Ensemble des Luzerner Sinfonieorchesters (Leitung: James Hendry) serviert die ohrschmeichelnden Offenbach-Melodien mit spielerischer Lust und viel Schmiss, leicht gehandicapt durch die nötige, eigentlich gut gemachte Tonverstärkung auf dem Theaterplatz. Beim Abmischen könnte aber noch ein klein wenig Feintuning in den Extremitäten (Bass und Höhen) den Klanggenuss erhöhen. Noch zwei Extrakomplimente gehen an Pascal Seibicke für Bühne und die teils herrlich überdrehten Kostüme, die das schräge Konzept des Abends perfekt umrahmen - und David Hedinger-Wohnlich, der mit seinem Lichtdesign dem Wort «Revue» alle Ehre gebietet.
Mutiges, eindrückliches, originelles und dennoch musikalisch leicht verdauliches Theater zeigt das Haus an der Reuss mit «Doktor Ox». Entertainment mit der Empfehlung des begeisterten Premierenpublikums – für einen beschwingten Sommerabend an schönster Lage in der Stadt. «Cancan»-Tanz im Schatten der Jesuitenkirche: Zum Glück bekommen das die einst gründenden Jesuitenpater nicht mehr mit.
Andréas Härry
Vorstellungen bis 1. Juli.