Spanischer Shooting-Star
Schöne Geste des Sinfonieorchesters: Unter der Leitung des designierten, neuen Chefdirigenten Michael Sanderling wurde musikalische Hochklasse gratis gestreamt. Höhepunkt: eine 18-jährige Violinistin.
Stream-Lethargie. Doch dieser Tage gab es Wake-up-Calls für lokale Hochkulturaffine. Das Luzerner Theater zeigte am Freitag «Tanz 33: Salt». Das Luzerner Sinfonieorchester war bereits am Donnerstag dran mit einem Sinfoniekonzert unter dem Titel «Romantik pur». Damit bedankt sich das Ensemble, gemäss Statement von Intendant Numa Bischof in der «Luzerner Zeitung», bei seinem Publikum und bei der öffentlichen Hand für die Unterstützung. Letzteres ein bemerkenswerter Dank, der anderen, kräftig subventionierten Kulturplayern ebenfalls gut zu Gesicht stehen würde. Der technisch hochwertig gestaltete Stream aus dem neuen Orchesterhaus in Kriens überzeugte durch hervorragenden Klang und eine zügige Bildregie. Wären da nicht zwei, drei Fehleinblendungen gewesen, man hätte sich in einer vorproduzierten Aufzeichnung gewähnt. An das Bild von maskierten Musikern hat man sich inzwischen gewöhnt, mit der betretenen Fast-Ruhe anstatt rauschenden Applauses nach grossartigen Leistungen mag man sich hingegen nicht anfreunden.
Der Klangpfleger
Eine weitere Aussage von Intendant Numa Bischof erklingt in Schlaufe: Das Luzerner Sinfonieorchester will an die Spitze der internationalen Szene. Spätestens seit dem Engagement des neuen Chefdirigenten Michael Sanderling ist klar, dass dies kein Satz aus der Marketingabteilung ist. Der 54-jährige Ostdeutsche war zuletzt acht Jahre lang Chefdirigent der Dresdner Philharmonie, konzertierte mit zig grossen Orchestern und hielt Professuren inne. Ein Mann höchster Reputation. Ursprünglich Cellist, eilt ihm der Ruf voraus, ein gründlicher «Klangpfleger» zu sein. Er will dem LSO zu mehr Opulenz im Repertoire verhelfen. Der neue Mann am Pult hat dabei das musikalische 19. Jahrhundert fest im Fokus. Auch für diesen Stream-Abend. Als Beethoven-Spezialist – mit der Dresdner Philharmonie spielte er alle Symphonien auf CD ein – wählte er für «Romantik pur» denn auch ein weniger oft gespieltes Werk des Komponisten. Die Ouvertüre zu «Coriolan» komponierte Beethoven für das gleichnamige Trauerdrama von Heinrich Joseph von Collin (1772–1811). Inhaltlich wird schwerste Romantik geboten. Der verbannte römische Feldherr Coriolan zieht mit fremden Truppen gegen seine Heimatstadt, stürzt sich vor deren Toren ins eigene Schwert. Beethoven fasst diesen düsteren Plot in seiner spezifischen, sofort erkennbaren musikalischen Sprache zusammen. Heftig und dringlich kommt die dichte Instrumentierung aus den Boxen, glücklich, wer Hochwertiges am PC angeschlossen hat.
Unaffektierte Nonchalance
Nach diesem schweren Einstieg wurden Klang und Optik leichter, frischer und vor allem jugendlicher. Mit der 18-jährigen Geigerin Maria Dueñas verpflichtete Numa Bischof einen Shooting-Star der Szene. Die Spanierin räumte bereits viele Auszeichnungen ab, zuletzt erlangte sie den 1. Preis der Carnegie Hall Competition. Sie gilt als eines der hoffnungsvollsten Jungtalente auf ihrem Instrument. Es werden sogar Vergleiche mit der lebenden Legende Anne-Sophie Mutter gezogen. Dirigent Sanderling und Dueñas dürften sich aus Dresdner Zeiten kennen, wo die Violinistin von 2014 bis 2016 studierte. Für den Livestream wurde ein Gassenhauer der Geigen-Literatur ausgewählt, das Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 g-Moll von Max Bruch (1838–1920). Das Werk ist das mit Abstand populärste Schaffen des deutschen Komponisten.
Die in Granada aufgewachsene Geigerin absolvierte den musikalisch und technisch fordernden Part mit herrlicher, unaffektierter Nonchalance. Luftig, stimmungsreich und leicht. Im Kontrast dazu nahm sie die musikalischen «Attacca» in der Partitur wörtlich, brillierte in den langen Doppelgriffpassagen der Komposition mit slawischen Klangmomenten durch begeisternde Unbändigkeit. Mit einer Solo-Zugabe aus der obersten technischen Liga des Violinspiels verabschiedete sich Maria Dueñas. Diesen Namen wird sich der Luzerner Klassikfreund dick hinter die Ohren schreiben, das war der erfrischende Höhepunkt des Abends.
Klanglicher Optimismus
Zum Schluss des Livestreams liess Michael Sanderling die Sinfonie Nr. 4 in d-Moll von Robert Schumann (1810–1856) erklingen. Das Werk war eine Zangengeburt bei der Entstehung. Schumann verfasste die Sinfonie zuerst in einem Satz und nannte sie «eine Fantasie». Es wurde ein Flop. Erst die Rückkehr in bekannte Strukturen nach 10 Jahren machte «die Vierte» bis heute populär. Michael Sanderling setzte zügige Tempi an, die Schwere der Tonart d-Moll verwandelte er so in klanglichen Optimismus. Den atmen aktuell alle liebend gerne ein, die Musik machen und Musik geniessen wollen.
Vorderhand herrscht halt Livestream-Hochkonjunktur. LSO-Intendant Numa Bischof sagt, dass sein Orchester «selektiv», sprich selten zu diesem Mittel greifen wird. Ein kluges Vorgehen. Tolle Ideen wie dieser Abend «Romantik pur» werden durch Seltenheit noch grossartiger und steigern die Vorfreude auf hoffentlich bald wieder mögliche Livemomente mit rauschendem Publikumsapplaus im grossen Konzertsaal.
Andréas Härry