«Mich erdet dieses Kunstwerk»

Das Bourbaki zeigt die Aufnahme einer ganzen französischen Armee in der Schweiz im Jahre 1871. Das Ereignis jährt sich zum 150. Mal. Direktorin Irène Cramm spricht unter anderem über die Aktualität des Exponats.

Die Schweizer Zivilbevölkerung und das damals noch junge Rote Kreuz retteten viele Soldatenleben. Bild: Gabriel Ammon / Aura

Die Schweizer Zivilbevölkerung und das damals noch junge Rote Kreuz retteten viele Soldatenleben. Bild: Gabriel Ammon / Aura

Museumsdirektorin Irène Cramm. Bild: PD

Museumsdirektorin Irène Cramm. Bild: PD

Ihr Museum erhält durch das 150-Jahr-Jubiläum der Bourbaki-Armee-Aufnahme aktuell viel Aufmerksamkeit. Wie erleben Sie dies?
Irène Cramm: Wir reden nicht gerne von einem Jubiläum, denn es gibt im Zusammenhang mit diesem Jahrestag nichts, worüber man jubilieren kann. Dieser Tag regt viel mehr zum Nachdenken und Reflektieren an. Es ist eine tragische, aber durchaus hoffnungsvolle Geschichte, die sich damals abgespielt hat. Zu Ihrer Frage: Ich bin sehr erfreut über den hohen Stellenwert, den dieser Jahrestag auch bei den nationalen Medien einnimmt.

Von fünf befragten Personen mittleren Alters konnten mir nur zwei einigermassen korrekte Antworten zum historischen Hintergrund des Bourbaki-Panoramas geben. Wie schätzen Sie diesen Wert ein?
So eine Quote finde ich gar nicht schlecht. Diese Erfahrung mache ich auch. Man weiss irgendwie, dass es sich um einen Heeresführer mit fremdländischem Namen handelt, und verwechselt Bourbaki vielfach mit Suworow. Es ist mir wichtig, dass wir die Menschen für die Geschichte sensibilisieren. Viele Luzernerinnen und Luzerner waren während der Schulzeit im Bourbaki-Panorama, dann war dies abgehakt. Ich will aufzeigen, dass es immer neue Elemente auf diesem Bild gibt, an denen man anknüpfen kann. Die Geschichte von Bourbaki ist eigentlich nie zu Ende erzählt.

Was wäre eine zeitgemässe Deutung des Bildes?
Deutung ist nicht das korrekte Wort, ich würde von einem Bezug sprechen – und da passt die aktuelle Pandemie. Da gibt es zwar keine Armee, aber Viren, mit denen wir umgehen müssen. Es ist eine Art der Krisenbewältigung nötig, die wie damals nur funktioniert, wenn alle am gleichen Strang ziehen, mit der Kooperation von Staat, Pflegenden, Armee und natürlich der Zivilbevölkerung. Das, was wir Solidarität nennen.

Ist das Bourbaki ein thematisch aktuelles Museum?
Denken Sie an das Thema Flüchtlinge. Wie gehen wir mit diesen Menschen um? Wie öffnen wir uns gegenüber Menschen und Themen, die uns fremd sind? Im Rahmen der jährlichen «Aktionswoche Asyl» machen wir Führungen mit Menschen, die heute auf der Flucht sind. Da erleben wir sehr starke Emotionen. Anknüpfend an das Bild fragen wir im übertragenen Sinn: «Bist du willkommen geheissen worden? Hat dir auch sofort jemand Essen und Obhut angeboten?» So können wir darüber diskutieren, was von damals heute noch gültig ist.

Wer besucht das Museum?
Rund 60 Prozent sind Schweizerinnen und Schweizer. Wie andere Museen müssen wir uns gegen das massive Angebot von Freizeiteinrichtungen behaupten. In vergangenen Jahren hatten wir es schwer, da wir «lediglich» unsere Dauerausstellung zeigen konnten. Es ist nun eine Priorität für die Stiftung und für mich, mit wechselnden Schwerpunktthemen das Haus attraktiv zu halten und auch Familien und ein jüngeres Publikum anzuziehen. In  den Jahren 2019 und 2020 haben wir erstmals eine Sonderausstellung durchgeführt: «Sehwunder». Wir schufen einen neuen, spielerischen Zugang zum Medium Panorama. Ein Effort, der mit erfreulichen Gästezahlen honoriert wurde.

Das Museum wird eine Event-Location?
Mit Events hat das nichts zu tun, sondern es geht um die Vermittlung von Inhalten, ausgehend von den Themen des Museums. Im Mai öffnet zum Beispiel die Sonderausstellung «Über Grenzen. Neugier, Hoffnung, Mut». Wir möchten damit zu einer aktuellen Auseinandersetzung mit Grenzüberschreitungen anstossen.

Wie gross ist Ihr gestalterischer Freiraum als Museumsdirektorin?
Ich habe sehr viel Freiheit. In Museen gibt es die Direktorin, den Kurator, den Techniker, das Marketing und die Medienstelle. Im Bourbaki machen dies alles meine Assistentin und ich. Wir können unglaublich viel gestalten mit Rückendeckung des Stiftungsrates.

Wie finanziert sich Ihr Museum?
Wir bekommen keine regelmässigen Betriebssubventionen von der Stadt oder vom Kanton Luzern. Das Bourbaki-Panorama wird von einer privaten gemeinnützigen Stiftung getragen, die Miteigentümerin des Gebäudes ist. Die Mieteinnahmen fliessen direkt in die Finanzierung des Museumsbetriebs. Wichtig ist der Förderverein des Museums, der uns bei der Finanzierung von Restaurierungs- und Wartungsarbeiten am denkmalgeschützten Rundbild unterstützt. Bei Stiftungen und der öffentlichen Hand beantragen wir punktuell Unterstützungsbeiträge für Sonderprojekte. 

Ihr Karriereweg ins Bourbaki-Museum ist vielfältig verlaufen.
Ursprünglich habe ich das Lehrerseminar absolviert, und zwar aus dem Hauptgrund, dass ich mich für vieles interessierte und mich nicht entscheiden konnte. Dann kamen Ausbildungen in Medienarbeit und Marketing. Später ging der Weg über einen Kunstverlag weiter in eine Kommunikationsagentur, die vor allem Mandate aus dem Kulturbereich betreut, unter anderem Museen. Zuletzt war ich für eine internationale Kunstgalerie in Luzern tätig, betreute deren Künstler, sah Werke kommen und gehen. Das war wie eine Brücke zu einem grossen bleibenden Kunstwerk, das ich jetzt betreuen darf.

Ist «Ihr» Bourbaki-Museum so etwas wie ein zweites Wohnzimmer geworden?
Wohnzimmer würde ich das nicht nennen. Aber es ist schon eine sehr spezielle Stimmung, wenn man sich allein im Panorama aufhält. Dies bestätigen auch Menschen, die hier arbeiten oder in der Nähe wohnen und regelmässig nach einem stressigen Tag ein paar Minuten hier verbringen. Es hat etwas Kontemplatives. Mich erdet dieses Kunstwerk trotz der traurigen Thematik. Die Malerei beruhigt mich.

Welche Zukunftsvisionen haben Sie für das Bourbaki-Panorama?
Mein grösster Wunsch ist es, den Weg mit vertiefter und vielleicht auch überraschender Vermittlungsarbeit weiter gehen zu können. Mit dem Effekt, dass viel mehr Leute auf der Strasse wissen, wofür das Bourbaki-Panorama steht. Die Menschen sollen fragen: «Was hat das, was damals geschah, mit uns heute zu tun? Wären wir heute auch noch solidarisch in ähnlicher Situation, oder würden wir, weil wir mehr zu verlieren haben, auf Gastfreundschaft verzichten?» Diesen Dialog möchte ich weiterführen und vertiefen, das ist mein wichtigstes Anliegen.

Andréas Härry

 

Info: Hilfe für 87'000 Soldaten

In der Endphase des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/1871 bewältigte die Schweiz die grösste Flüchtlingsaufnahme ihrer Geschichte. General Charles Denis Bourbaki und seine Armee befanden sich in aussichtsloser militärischer Lage, von deutschen Truppen eingekesselt, nahe der Schweizer Grenze. 87 000 Soldaten kamen via Neuenburger und Berner Jura von 1. bis 3. Februar 1871 in unser Land. Das 1863 gegründete Rote Kreuz und die Schweizer Bevölkerung leisteten grosse Hilfe. Die internierte Bourbaki-Armee wurde auf das ganze Land, ausser dem Tessin, verteilt. Sechs Wochen blieben die Soldaten in der Schweiz. 1881 realisierte der Franzose Edouard Castres, der beim Ereignis als Helfer des Roten Kreuzes im Einsatz war, das heute 112 × 10 Meter grosse Panorama-Rundbild. In seinem Malerteam arbeitete unter anderem auch der damals kaum bekannte Ferdinand Hodler. Das Panorama-Ölbild mit Vorgelände zeigt den Grenzübertritt der Soldaten in Les Verrières NE. Seit 1889 befindet sich die Installation in Luzern. 2021 jährt sich die Aufnahme der Bourbaki-Armee zum 150. Mal. Das Bourbaki-Panorama ist heute ein europäisches Kulturdenkmal.

ahy
 

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