Die Klassik braucht «Diversity»

Von 9. August bis 11. September ist die Leuchtenstadt Pilgerort der Klassikfans. Das Motto des Festivals, «Diversity», legt den Finger auf bemerkenswerte Tatsachen in der Welt der musikalischen Hochkultur.

Eines der Aushängeschilder des diesjährigen Sommerfestivals: Schlagzeuger, Pianist, Posaunist und Komponist Tyshawn Sorey. Bild: John Rogers

Eines der Aushängeschilder des diesjährigen Sommerfestivals: Schlagzeuger, Pianist, Posaunist und Komponist Tyshawn Sorey. Bild: John Rogers

Der südafrikanische Opernstar Golda Schultz tritt ebenfalls am Festival auf. Bild: Dario Acosta

Der südafrikanische Opernstar Golda Schultz tritt ebenfalls am Festival auf. Bild: Dario Acosta

Die dominierende Hautfarbe auf den Bühnen der klassischen Musik ist Weiss, das übervertretene Geschlecht an Dirigentenpulten und Chefposten männlich. Binsenwahrheiten, seit Jahrzehnten. Tendenz: im Schneckentempo sich etwas verschiebend. Hätte das Lucerne Festival vor zehn Jahren das Motto «Diversity» verkündet, wäre dies eine Sensation, ein Signal, eine progressive Aktion gewesen. 2022 springen die Kreateure der global renommierten Klassiksause am Vierwaldstättersee mit diesem Obertitel auf einen der hinteren Wagen eines seit geraumer Zeit vorbeifahrenden Zuges auf. «Diversity» ist das Wort der Zeit, von der Hochklassik bis in die Niederungen der Trivialunterhaltung. Heidi Klums Models in «Germany’s next Topmodel» gehen aktuell auch unter dieser Fahne über den Laufsteg.

 

Von Jazz bis zeitgenössisch

«Lieber spät als nie», ist die nächste Binsenwahrheit, darum darf trotzdem Applaus aufbranden für diese Mottowahl, die somit zwar nicht überraschend, aber in der Welt der Klassik auf einen grossen Handlungsbedarf hinweist. Das Lucerne Festival schreitet zur Tat mit dem Engagement von Künstler:innen, die nicht dem eingangs genannten Mainstream der Szene angehören. Vorab sind es zwei, die «Artistes étoilés», die besonders herausgehobenen Stars des Festivals. Der schwarze New Yorker Tyshawn Sorey ist Schlagzeuger, Pianist, Posaunist und Komponist. Seine Musik changiert von Jazz bis zu zeitgenössischen Kompositionen. Er ist Meister der Improvisation und offener Spielanweisungen. Die südafrikanische schwarze Sopranistin Golda Schultz ist als Opernstar global unterwegs. Sie wurde zuletzt 2021 an der bayerischen Staatsoper für ihre Interpretation der Agathe in Webers «Freischütz» gefeiert. In Luzern tritt sie mit dem Mythen Ensemble Orchestral auf. Einem Schweizer Orchester, das sich seit 2007 regelmässig der Aufführung von sinfonischen Werken des Fin de Siècle in Kammerfassungen widmet, geleitet von Graziella Contratto. Golda Schultz singt zudem den «Hitparaden-Part» Clara in Gershwins «Porgy and Bess» mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester unter Alan Gilbert.

Die Ausnahmegeigerin Anne-Sophie Mutter ist – natürlich – auch dieses Jahr wieder zu Gast in der Zentralschweiz. Um auch bei ihr das Festivalmotto musikalisch zu leben, interpretiert die nahe der Schweizer Grenze aufgewachsene Baden-Württembergerin ein Violinkonzert des schwarzen, in Guadeloupe geborenen Mozart-Zeitgenossen Joseph Bologne, «Chevalier de Saint-Georges». Das Werk ist Teil des Eröffnungskonzertes des diesjährigen Festivals unter der Leitung von Ricardo Chailly am 12. August auf der KKL-Bühne. Rachmaninow kommt an diesem Abend auch zu Ehren, dazu die Uraufführung eines Werks des dieses Jahr seinen 70. Geburtstag feiernden Wolfgang Rihm. Dieses Eröffnungskonzert wird selbstverständlich aufs Inseli übertragen. 

Drei Tage vorher starten bereits Konzerte mit hochklassigen Jugendorchestern. Auch da wird «Diversity» geboten. Das Chineke! Orchestra ist ein professionelles, britisches Orchester, das sich mehrheitlich aus schwarzen, asiatischen und weiteren ethnisch unterschiedlichen Musiker:innen zusammensetzt. Das Wort «Chineke» heisst in Igbo-Sprache «Gott». Weitere Jugendformationen sind das National Youth Orchestra of the USA, ein Orchester des 2015 in São Paulo begründeten Festivals und Sozialprojekts «Ilumina». Den Reigen der jungen Formation schliessen der Chor und das Orchester von Superar – spanisch für «über sich hinauswachsen» – Suisse. Dieses Projekt fördert Kinder und Jugendliche, unabhängig von ihrer Herkunft oder ihrem sozioökonomischen Hintergrund.

 

Noch mehr Worte als Taten

Das weitere Programm des Festivals folgt bewährten Bahnen. Die Gratis-40-Minuten-Konzerte gibt es auch 2022 in neunfacher Ausführung. Das sehr junge Publikum darf sich auf neue Familienkonzerte der «Schurken und der Taschenoper Lübeck» freuen. Das Festival «in den Strassen» von 23. bis 28. August unterhält das Publikum in der Stadt mit Klängen von sechs internationalen Musikgruppen. Zurück ins KKL: Die Künstler:innen-Galerie ist natürlich ausnahmslos mit grossen Namen dotiert, daraus herausgepickt: Cecilia Bartoli. 18 Orchester gastieren in Luzern, das Who’s who der Szene. Auszüge aus der Liste: Die Bamberger Symphoniker kommen mit Jakub Hrůša am Pult, die Berliner Philharmoniker mit Kirill Petrenko und Tabea Zimmermann. Das London Symphony Orchestra steht unter der Leitung von Sir Simon Rattle. Das Budapest Festival Orchestra leitet Iván Fischer, das Cleveland Orchestra kommt mit Franz Welser-Möst und das Mahler Chamber Orchestra mit Isabelle Faust sowie Antoine Tamestit. Daniel Barenboim dirigiert natürlich «sein» West-Eastern Divan Orchestra, und die Wiener Philharmoniker stehen unter dem Dirigat von Esa-Pekka Salonen. Gerade diese letzte Aufzählung von Orchestern und den fast ausschliesslich weissen Männern an den Taktstöcken zeigt eindrücklich, dass noch viel Wasser am KKL vorbeifliessen muss, bis in der Welt der Klassik nicht nur verkündete, sondern auch wahre «Diversity» Einzug hält. Das Lucerne Festival macht ein paar Schritte dahin.

Andréas Härry

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